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Elf gewerkschaftliche Thesen zum öffentlichen Diskurs über Akademisierung und berufliche Ausbildung

Der Hunger nach Aufstieg – Chancengleichheit ohne Standesdünkel

These 1:
Die Zahlenverhältnisse in den Systemen der beruflichen und der akademischen Bildung verschieben sich. Rund jede/r zweite Berufseinsteiger/in hat heute einen akademischen Abschluss.


Es scheint ein wenig ein Mode-Thema zu sein, die drohende Akademisierung der Berufsausbildung. Steigende Studierendenzahlen führen jedenfalls derzeit zu hitzigen Diskussionen. Führt der Run auf die Hochschulen wirklich zum Niedergang der dualen Berufsausbildung? Konkurrieren Betriebe mit Hochschulen um „die besten Köpfe“? Wir haben genug von den pauschalen und undifferenzierten Schnellurteilen und nehmen uns einmal etwas Zeit, ausführlicher über diese Frage nachzudenken.

Betrachten wir zunächst die quantitative Ausgangslage: Die Zahl der Studienanfänger/innen verdoppelte sich bundesweit alleine in den letzten zwanzig Jahren von rund 260.000 auf 510.000 (von 1995 bis 2013). An den nordrhein-westfälischen Hochschulen waren im Wintersemester 2014/15 rund 711.900 Studierende eingeschrieben – so viele wie nie zuvor. Dem stehen rund 315.000 Auszubildende in NRW gegenüber.

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Bildungsdauern ist dies ein schwieriger Vergleich, wir vergleichen daher die Anfänger/innen: Im Herbst 2014 standen in NRW gut 117.400 neue Ausbildungsverträge auf der einen Seite, 105.400 Erstsemester auf der anderen.
Die Tendenz ist eindeutig und wird von bundesweiten Zahlen bestätigt: Seit 2011 übersteigt die Zahl der Studienanfänger/innen die der Neuzugänge in die duale Ausbildung in Deutschland. Der Trend ist klar: Rund jede/r zweite Berufseinsteiger/in hat heute einen akademischen Abschluss.


These 2:
Es wird eine Höherwertigkeit der akademischen Ausbildung unterstellt – die Eigenheiten der dualen Berufsausbildung werden übersehen.


Diese Verschiebungen haben zu einer öffentlichen Debatte geführt. Die OECD berichtete jahrelang über den hohen Anteil der Akademiker/innen im europäischen Vergleich und unterstellte eine nachteilige Entwicklung in Deutschland ohne Beachtung unterschiedlicher Bildungs- und Berufsbildungssysteme in den einzelnen Staaten. Insbesondere aus den Wirtschaftsverbänden kam der berechtigte Hinweis, dass die Eigenheiten des dualen Systems der Berufsausbildung in den OECD-Berichten zu wenig Beachtung finden würden. Schließlich deckt das duale System in Deutschland Qualifikationsbedarfe ab, die in anderen Ländern nur über ein Studium erlangt werden können. Bei der formalen Betrachtung, ob sich der Zugang in Arbeit über den akademischen Weg oder über eine duale Berufsausbildung vollzog, bediente sich die OECD einer Sichtweise, die automatisch die Höherwertigkeit der akademischen Ausbildung unterstellte, ohne das Kompetenzniveau dual Ausgebildeter angemessen zu würdigen. Namhafte Berufsbildungsforscher wie Felix Rauner widersprechen dem. Sie unterstellen, dass, insbesondere bei sogenannten „semi-akademischen Berufen”, ein höheres Qualifikationsniveau erreicht werden kann als bei einem vergleichbaren Studienabschluss auf Bachelor-Niveau.


These 3:
Hinter einem biologischen Begabungsbegriff steht Standesdenken.


2013 stieß Julian Nida-Rümelin zugespitzt die Debatte zum Akademisierungswahn mit einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung an. Darin vertritt er die These, dass die wachsende Zahl Studierender zum Niedergang des dualen Ausbildungssystems führe und plädiert für ein Bildungssystem, das sich an der Vielfalt von Begabungen, Interessen, Berufs- und Lebenswegen orientiert. Seiner Meinung nach kann dies unter anderem durch eine universitäre Ausbildung geschehen, die „jedem begabten jungen Menschen, der studieren will, offen stehen soll“. Zu diesem System gehöre auch die berufliche Bildung. Doch die Anerkennung für diesen Weg in den Beruf schwinde und so entstehe eine Abwärtsspirale, die den Fachkräftemangel noch verstärke, der aus demografischen Gründen ohnehin drohe. Er geht von einem biologischen Begabungsbegriff aus, demnach einige junge Menschen eine Veranlagung zum Studium hätten, andere eher „praktisch-begabt“ seien, und prognostiziert einen Fachkräftemangel – beides können wir nicht teilen.

Debatten über eine „Akademikerschwemme“, wie Julian Nida-Rümelin sie befeuert, treten periodisch immer wieder auf. Die Motive sind oft: Angst vor Statusverlust, Standes- und Elitedenken, angeblicher Niveauverlust, Überforderung der Lehrenden an Hochschulen. Angetrieben wird die Diskussion durch die Auseinandersetzung um die demografische Entwicklung und den künftigen Arbeitskräftebedarf.


These 4:
Die Verschiebung zwischen beruflicher Ausbildung und Studium ist Resultat eines wachsenden Bildungsinteresses der Bevölkerung, das mit dem Wunsch nach Aufstieg eng verbunden ist.


Die quantitative Verschiebung zwischen beruflicher Ausbildung und Studium folgt aber keiner Arbeitskräftestrategie, sondern ist als Resultat des wachsenden Bildungsinteresses in der Bevölkerung zu begreifen. Als solches ist sie auch politisch nicht regulierbar. Es ist eine Abstimmung mit den Füßen. Alle Versuche hier stärker regulierend einzugreifen sind gescheitert und unnötig. Jeder, der über den „Akademisierungswahn“ klagt, muss sich fragen lassen: Welchen Bildungsabschluss würden Sie sich für Ihr Kind wünschen?

Der Trend zu Höherqualifizierung ist im gesamten Schul- und Bildungssystem zu beobachten. Er macht an der Hochschule nicht halt. Bestimmte duale Ausbildungsgänge sind zum Beispiel ohne Abitur nicht mehr erreichbar. Der mittlere Schulabschluss beziehungsweise die Studienberechtigung wird mehr und mehr zur Leitwährung auf dem Ausbildungsmarkt. 75 Prozent der Bewerber/innen in NRW im dualen System verfügen über einen solchen gehobenen Abschluss. Auffällig ist die wachsende Zahl der Studienberechtigten im dualen System. Sie ist laut Berufsbildungsbericht bundesweit von 20,3 (2009) auf 25,3 Prozent (2013) gestiegen. Gleichzeitig sinkt der Anteil der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss kontinuierlich: Lag er 2009 noch bei 33,1 Prozent, ist er mittlerweile unter die 30-Prozent-Marke gerutscht (29,5 Prozent 2012). Trotz sinkender Bewerberzahlen und zunehmender Besetzungsprobleme grenzen viele Betriebe die Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss schon aus dem Auswahlverfahren zur Besetzung der Ausbildungsplätze aus. 61,6 Prozent der angebotenen Plätze der IHK-Lehrstellenbörse bleiben Hauptschulabsolventen verschlossen. Bei den Jugendlichen ohne Schulabschluss sind es gar 96,3 Prozent.

Neben dem Auswahlverhalten der Betriebe wird diese Entwicklung auch durch andere Herausforderungen befördert. Technische Anforderungen haben die dualen Berufsbilder verändert. Die theoretischen Anteile sind stetig gewachsen und immer mehr dual Ausgebildete sehen sich mit immer komplexeren Herausforderungen konfrontiert. Um den Anteil der Personen zu erhöhen, die diesen Anforderungen gerecht werden können, muss sich das Bildungssystem umstellen. Unsere These ist: Der Trend zu Höherqualifizierung ist unumkehrbar. Er wird von allen relevanten Anreizen des Arbeitsmarktes wie Arbeitslosigkeit, Einkommen und Karriere sowie der technologischen und ökonomischen Entwicklung gestützt.

Betrachten wir die Arbeitslosenquoten nach Bildungsabschluss, dann ist es nur zu verständlich, dass viele Eltern ihren Kindern nahelegen, alles Engagement in den akademischen Weg zu legen. Während die Arbeitslosenquote bei Menschen ohne berufliche Qualifizierung bei rund 20 Prozent liegt, beträgt sie bei Erwerbsfähigen mit dualer Ausbildung um die fünf Prozent und bei jenen mit akademischem Abschluss knapp über zwei Prozent.

Mit der Umstellung auf Bachelor und Master unterliegen die Übergänge in den Arbeitsmarkt weiteren Veränderungen – valide Zahlen fehlen noch. Aber im Trend deutet sich an: Der Master erweist sich als vergleichbar mit dem alten Diplom und dem Magister, der Fachhochschul-Bachelor entspricht dem Fachhochschul-Diplom, lediglich der Universitäts-Bachelor ist hinsichtlich Einkommen und beruflicher Stellung noch unsicher am Arbeitsmarkt.

Wie steht es um das Einkommen? Akademiker/innen verdienen in Deutschland laut OECD-Bildungsbericht 2014 im Durchschnitt 74 Prozent mehr als Erwerbstätige, die weder zur Universität noch zur Fachhochschule gegangen sind oder einen Meisterkurs besucht haben. Im Jahr 2000 lag dieser Hochqualifizierten-Vorsprung beim Einkommen in Deutschland erst bei 45 Prozent. Im Schnitt der anderen Industrienationen beträgt ihr Lohnvorteil derzeit 59 Prozent. Kurzum: „Es ist nicht der Hunger nach Erkenntnis, der die Studenten von heute in die Seminare treibt – es ist der Hunger nach Aufstieg“, wie die Journalistin Marion Schmidt am 6. November 2014 in Die Zeit schrieb.


These 5:
Qualität und Quantität stimmen in beiden Bildungssystemen nicht. Vor allem: Wir haben nicht zu viele Akademiker/innen, wir haben zu wenig dual Ausgebildete.


Die Frage, ob junge Menschen über eine betriebliche oder eine akademische Ausbildung ihren Weg in Arbeit finden, ist im Kern nicht die entscheidende. Es ist falsch, eine plakative Forderung nach einer höheren Akademikerquote aufzustellen. Ebenso falsch ist es, mehr Jugendliche zu einer Ausbildung überreden zu wollen.

Die duale Ausbildung in Deutschland bereitet Jugendliche qualitativ hochwertig auf das Berufsleben vor. Rund 70 Prozent der Jugendlichen sind mit der fachlichen Qualität ihrer Ausbildung sehr zufrieden. Wir wissen aber auch, dass umgekehrt drei von zehn Jugendlichen die Qualität der Ausbildung kritisieren, ob nun der betriebliche Ausbildungsplan fehlt oder ausbildungsfremde Tätigkeiten ausgeübt werden müssen. Jahr für Jahr sehen wir im Ausbildungsreport der DGB Jugend, dass die Ausbildungsqualität sehr differenziert nach Branchen und Betrieben zu betrachten ist.

Umgekehrt strömen immer mehr Jugendliche an die Hochschulen, wo sie in Vorlesungen auf dem Boden sitzen müssen, um rare Plätze in überfüllten Seminaren kämpfen, ihre Professor/innen kaum einmal persönlich sprechen, in verschulten Studiengängen stets nur für die nächste Prüfung lernen ohne Zeit für auch nur einen kritischen Gedanken und schließlich ihre Ellenbogen im Kampf um einen der begehrten Masterplätze ausfahren müssen.

Wir hören aus Betrieben erste Stimmen, wonach junge Erwachsene, die so studieren, zwar fachliches Wissen mitbrächten, es ihnen aber an sozialen Kompetenzen mangele. Selbstorganisation, kritisches Reflektieren, Eigenständigkeit in Entscheidungen und Teamfähigkeiten stehen im heutigen Bachelor-Master-System nicht an erster Stelle, gleichwohl sind es Eigenschaften, die von hochqualifiziertem Führungspersonal in den Betrieben erwartet werden.

Schließlich fehlen in beiden Bereichen schlicht Plätze. Es gibt zu wenig Ausbildungsstellen und auch zu wenig Studienplätze. Besonders deutlich wird dies im Hochschulbereich bei den Masterplätzen. Der Rückgang in der dualen Ausbildung ist angebotsverursacht. Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen übersteigt jedes Jahr das Stellenangebot. Ausschlaggebend ist hier also das Verhalten der Unternehmen, die zu wenige Ausbildungsplätze anbieten.

In NRW verbleiben seit Jahrzehnten in jedem Jahr zehntausende junge Menschen dauerhaft ohne jede Berufsausbildung. Der Anteil liegt konstant bei um die 20 Prozent und das obwohl schon 1996 der NRW-Ausbildungskonsens versprach: Jeder junge Mensch in NRW, der ausgebildet werden will, wird ausgebildet. Die Lobeshymnen auf das duale System übersehen, dass es ein massives Marktversagen gibt, von dem jeder fünfte Jugendliche in NRW betroffen ist. Die offizielle Lesart der Statistiken beschönigt die Situation. So wird aus einem „unversorgten“ Jugendlichen ein Bewerber mit Alternative, wenn er zum Beispiel noch berufsschulpflichtig ist und sich in einer perspektivlosen „KSOB-Klasse“ (Klasse für Schüler/innen ohne Berufsausbildungsverhältnis) am Berufskolleg wiederfindet. Was so hässlich klingt, heißt nach den Sommerferien 2015 dann „dualisierte Ausbildungsvorbereitung“. Ein schönerer Titel, aber ändern wird er nichts. Rund 70 Prozent der Jugendlichen verlassen den Bildungsgang ohne Abschluss und, was noch schlimmer ist, ohne Anschluss. Hier entsteht der harte Kern der Langzeitarbeitslosen, der auch unter guten konjunkturellen Vorzeichen kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt bekommt, wie die aktuelle Arbeitslosenstatistik belegt.


These 6:
Die Lösung liegt in einer höheren Durchlässigkeit und Verzahnung der Systeme.


Nahezu alle bildungspolitischen Expert/innen sehen eine Lösung in einer höheren Durchlässigkeit und Verzahnung der Systeme. Der Gedanke der Durchlässigkeit wurde bereits im Europäischen Qualifikationsrahmen angelegt, der 2008 im Europäischen Parlament und Rat beschlossen wurde. Die europäischen Länder haben sich darauf verständigt, sämtliche Qualifikationsniveaus der allgemeinen, der beruflichen und der akademischen Aus- und Weiterbildung acht Referenzniveaus zuzuordnen. Ziel war es, Qualifikationen über Staatsgrenzen hinweg vergleichbar zu machen und die Mobilität der Menschen zu erhöhen.



Die Tabelle zeigt die Umsetzung im Deutschen Qualifikationsrahmen, um den es ein zähes Ringen zwischen der akademischen und der berufsbildnerischen Seite gegeben hat. Schließlich besteht nun im Ergebnis ein fließendes System. Getragen wird dieses von dem Gedanken lebenslangen Lernens, in dessen Verlauf jeder Mensch theoretisch immer wieder eine höhere Niveaustufe erreichen kann. Dabei wurden Kompromisse gefunden, bei denen sich die Frage stellt, inwieweit das Schema insbesondere den komplexen dualen Berufsbildern gerecht wird, und ob auf europäischer Ebene dadurch die Gleichwertigkeit von dualer und akademischer Bildung angemessen abgebildet wird. Dass allgemeinbildende Schulabschlüsse wie das Abitur nicht zugeordnet wurden, ist nach wie vor richtig. Das Gesamtgefüge hätte eine deutliche Schieflage bekommen, wenn das Abitur einer dreieinhalbjährigen Ausbildung gleichgestellt worden wäre.


These 7:
Chancengleichheit und Inklusion sind zwei Seiten einer Medaille.


Eine der größten bildungspolitischen Herausforderungen der kommenden zehn Jahre ist die Anwendung der UN-Behindertenrechtskonvention. Doch was heißt das im Kontext der jeweiligen Bildungsbereiche und vor dem Hintergrund der Zuweisung bestimmter Aufgaben für die berufliche Bildung und die hochschulische Bildung? Die meisten konkreten Handlungsoptionen bieten sich hinsichtlich einer verbesserten Bildungsbeteiligung körperlich Behinderter in beiden Bildungsbereichen. Hier sind die Ausgangsituationen und die Herausforderungen sehr ähnlich und der Unterschied zwischen der beruflichen Bildung und der hochschulischen Bildung geringfügig. Doch wie sieht es mit der Inklusion der jungen Menschen aus, die emotionale oder soziale Störungen aufweisen oder lernbehindert sind? Liegt hier die alleinige Aufgabe bei der beruflichen Bildung? Unterstellt man einen ganzheitlichen Inklusionsbegriff, kommt man zu anderen Ergebnissen. Der Inklusionsgedanke bezieht sich dann nicht nur auf Behinderung als klinische, sondern auch als soziale Kategorie. Wie im Verständnis der UNESCO richtet sich die englischsprachige Fassung der UN-Konvention gegen jegliche Formen des Ausschlusses von sozialer Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe, sei es aufgrund des Geschlechts, der sozialen oder ethnischen Herkunft, Religion, sexuellen Orientierung oder sonstiger Beeinträchtigungen. In diesem weiten Verständnis gilt Bildung als Menschenrecht. Die UN verortet die Ursachen von Lernschwierigkeiten im Bildungssystem und seinen Strukturen und nicht bei den einzelnen Personen, die in einer Teilhabe behindert werden. Die Lernenden werden in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit geschätzt. Die Strukturen sollten in allen Bildungsbereichen – und damit in der Berufsausbildung wie in der hochschulischen Bildung – so gestaltet und organisiert werden, dass sie allen Lernenden mit ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht werden. Dabei sollen Lernende nicht nach sozialen Kategorien wie Behinderung oder Benachteiligung in verschiedene Gruppen und in Sondermaßnahmen wie Förderschulen aufgeteilt werden. Denn mit derartigen Zuordnungen sind für die Betroffenen Stigmatisierungs- und Diskriminierungsrisiken verbunden. Inklusion in einem umfassenden Sinne ist deshalb nur durch ein Höchstmaß an Chancengleichheit und Durchlässigkeit zu erreichen. Um nicht falsch verstanden zu werden – Chancengleichheit ist nicht Ergebnisgleichheit. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht jeder wird eine akademische oder berufschulische Laufbahn absolvieren und entsprechende Abschlüsse vorweisen können. Aber jeder sollte seine Potenziale voll entfalten können.


These 8:
In der Realität mangelt es an Chancengleichheit und Durchlässigkeit.


In der Realität mangelt es vor allem an einer sozialen Durchlässigkeit. Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien studieren 77. Von 100 Kindern aus Facharbeiterfamilien sind es hingegen nur 23. Es gibt zwar auch einige Hochschulen, bei denen deutlich mehr nicht-traditionelle Studierende lernen wie zum Beispiel an der Westfälischen Hochschule. In der Regel prägt jedoch die familiäre Herkunft den Bildungsweg.

Deutschland ist im OECD-Vergleich nicht etwa ein Bildungsaufsteiger-, sondern ein Bildungsabsteiger-Land, so die Terminologie der OECD. Nur 19 Prozent der jungen Erwachsenen bis 34 sind höher gebildet als ihre Eltern, ein knappes Viertel hat einen niedrigeren Abschluss. Auch wenn hier wieder die klassische Sichtweise der OECD auf die berufliche Bildung durchscheint und dual Ausgebildete als Bildungsabsteiger/innen gesehen werden, so ist doch die Tendenz bemerkenswert.

Langsam steigen die Zahlen der beruflich Qualifizierten, die ohne Abitur ein Studium aufnehmen. Aber mit rund 13.000 Eingeschriebenen, davon 8.800 alleine an der Fernuniversität Hagen, bleibt noch viel Potenzial nach oben. Der formale Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte ohne Abitur war ein wichtiges Signal. Diese rechtliche Öffnung von Bildungswegen ist Voraussetzung, aber nicht hinreichend für eine tatsächliche Chancengleichheit. Zum einen ist die Öffnung nicht weitgehend genug, wenn vor allem Meister, Fachwirte und Techniker einen freien Zugang zum Studium haben, beruflich Qualifizierte in NRW mit dreijähriger Berufserfahrung aber nur zu einem fachaffinen Studiengang. Zum anderen müssen auch die Rahmenbedingungen stimmen, das heißt Fragen der Anrechnung von Qualifikationen und Vorkenntnissen, von Struktur und Aufbau berufsbegleitender Studiengänge und von Unterstützungsangeboten sind noch nicht hinreichend umgesetzt.

Ein wichtiger Schlüssel liegt in den allgemeinbildenden Schulen. Ein zentrales Problem, das die PISA-Studien zu Tage gefördert haben, ist die hohe Abhängigkeit von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Seitdem bestätigen unterschiedliche Studien, wie zuletzt der Chancenspiegel der Bertelsmann-Stiftung, regelmäßig, wie weit wir von einer echten Chancengleichheit entfernt sind.

Konkret muss es zukünftig für Jugendliche aus nichtakademischen Haushalten leichter werden, ein Studium aufzunehmen, müssen beruflich Qualifizierte einen leichteren Zugang zum Studium finden, aber umgekehrt zum Beispiel auch Studienabbrecher/innen einen fließenden Übergang in Ausbildung als Option sehen. Duale Studiengänge müssen gefördert werden; Hochschulen besser auf diverse Studierende mit unterschiedlichen Biographien vorbereitet werden. Die jetzigen rechtlichen Zugangsmöglichkeiten laufen vielfach ins Leere. Der direkte Zugang von Absolvent/innen der Aufstiegsfortbildung ist realitätsfern. Die Absolvent/innen befinden sich in der Familiengründungsphase und erwarten nun den Nutzen ihrer Bildungsinvestitionen und Bildungsanstrengungen. Für klassische Absolvent/innen einer dualen Berufsausbildung ist es schwer nach einer dreijährigen Berufstätigkeit zurück in den Lernmodus zu finden, zumal sie sich im Hochschulbetrieb wie ein Fremdkörper fühlen, von fehlenden fachlichen Voraussetzungen einmal abgesehen.


These 9:
Wir müssen auf Konkurrenzdenken und akademischen Dünkel verzichten und das Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung neu ordnen.


Damit der Weg von der Schule in den Arbeitsmarkt erfolgreich verläuft, müssen wir auf Konkurrenzdenken oder akademischen Dünkel verzichten, wir brauchen eine enge Verzahnung und offene Bildungswege. Der dualen Berufsausbildung und dem deutschen Fachkräftemodell muss nicht der Atem ausgehen, meint auch Martin Baethge von der Universität Göttingen. Unternehmen, Gewerkschaften und Politik sollten dagegen die Herausforderung annehmen für eine neu ausgerichtete Berufsbildungsreform. Diese müsste, so der Wissenschaftler, vor allem zwei Projekte in Angriff nehmen:

Einerseits eine Verbesserung der Durchlässigkeit von der Ausbildung zum Studium und umgekehrt, die auch mehr Studienberechtigten eine Ausbildung attraktiv machen könnte. Zum anderen wäre es nötig, endlich dem weitgehend brachgelegten Potenzial der Jugendlichen mit maximal Hauptschulabschluss und oder Migrationshintergrund durch systematische pädagogische Unterstützung vor und besonders während der Ausbildung zu qualifizierten Ausbildungsabschlüssen zu verhelfen. Hier gibt es erfolgreiche Beispiele wie den „Dritten Weg der Berufsausbildung“, der es Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus ermöglicht hat, trotz multipler Problemlagen eine vollwertige duale Berufsausbildung abzuschließen.

Die Durchlässigkeit könnte, so Martin Baethge, eine produktive Alternative zur dysfunktionalen Konkurrenz zwischen Akademisierung und Berufsausbildung abgeben.
Auch der Wissenschaftsrat veröffentlichte 2014 Empfehlungen zur Gestaltung des Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung, in denen er eine funktionale Balance zwischen den beiden post-schulischen Bildungsbereichen empfahl. Der Rat sprach sich für eine erhöhte Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung in beide Richtungen aus. Er plädierte für eine stärkere Verzahnung der beiden Bildungsbereiche sowie den weiteren Ausbau und eine zusätzliche Ausdifferenzierung des Angebots an hybriden Ausbildungsformaten wie beispielsweise dem dualen Studium. Das Ziel sei ein post-schulisches Bildungssystem, das vielfältige, individuell gestaltbare Bildungswege eröffne und den sich wandelnden Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes Rechnung trage.


These 10:
Im NRW-Berufskolleggesetz liegen schlummernde Chancen für mehr Durchlässigkeit.


Ein gewerkschaftlicher Vorschlag, der die Durchlässigkeit von beruflicher und akademischer Bildung voranbringen kann, ist im System der berufsbildenden Schulen bereits angelegt. So besteht zum Beispiel in NRW nach dem Berufskolleggesetz die Möglichkeit des gleichzeitigen Erwerbs der Fachhochschulreife. Damit verbessert sich die Studierfähigkeit und -möglichkeit der Absolvent/innen deutlich. Weniger Brückenkurse und nachgelagerte Unterstützungssysteme sind notwendig. Die Attraktivität der dualen Ausbildung kann deutlich gesteigert werden, weil ein so ausgebildeter Jugendlicher in der gleichen Zeit nicht nur einen Berufsabschluss, sondern auch die fachgebundene und die allgemeine Hochschulreife erwerben kann. Doch diese Möglichkeit, die im Zuge der Zusammenlegung von Kollegschule und dem berufsbildenden Schulwesen eingeführt wurde, findet in der Realität kaum Umsetzung. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Zum einen sah die Wirtschaft diese Ausbildungsvariante eher als Bedrohung denn als Chance. So hatten die Betriebe kein Interesse daran, die gut vorqualifizierten Jugendlichen zu verlieren. Kammern und Arbeitgeberverbände haben dieses Modell nie ernsthaft propagiert – im Gegenteil. Zum anderen kennen die Jugendlichen diese Möglichkeit nicht. Woher auch?

Es wird Zeit, das Berufskolleggesetz, wie es in NRW heißt, endlich mit Leben zu füllen. Hier hilft eventuell die demografische Entwicklung. Arbeitgeber und Kammervertreter sehen darin nun, da erste Branchen über Besetzungsprobleme klagen, eine Möglichkeit die Attraktivität der dualen Ausbildung zu erhöhen. Die Durchlässigkeit wird nicht mehr als Bedrohung, sondern als Chance wahrgenommen. Für viele Jugendliche hängt die Berufswahl nicht nur vom Einkommen ab, sondern auch davon, welche Perspektiven ihnen geboten werden. Gute Arbeit, eine auskömmliche Entlohnung und realistische Aufstiegsperspektiven bilden die Eckpfeiler des magischen Dreiecks im Kampf um die besten Köpfe. Hier müssen die Arbeitgeber ihre Hausaufgaben machen. Imagekampagnen lösen keine Probleme. Das muss auch das Handwerk leidvoll erfahren.


These 11:
Die hohe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft resultiert auch aus dem Ineinandergreifen von beruflicher und akademischer Bildung.


Die Arbeitswelt verändert sich und damit auch die Anforderungen an das Bildungssystem. Der langjährige Strukturwandel führt zu veränderten individuellen Ansprüchen und einer veränderten Arbeitskraftnachfrage. Auch die Tätigkeiten selbst verändern sich. Gerhard Bosch vom Institut Arbeit und Qualifikation beschreibt, dass in neuen flexibleren Organisationsformen die Anzahl der Hierarchieebenen verringert und Koordinierungsaufgaben auf die ausführende Ebene verlagert wurden. Der funktionale Aufgabenzuschnitt ist vielfach durch eine prozessorientierte Arbeitsorganisation ersetzt worden, in der Beschäftigte meist im Team mit unterschiedlichen Berufen arbeiten. Betriebliche Reorganisationsprozesse führen zudem häufig zu einem Arbeitsplatzwechsel im Unternehmen oder in ein anderes Unternehmen. Oft gehe die Initiative zu einem Tätigkeits- oder Unternehmenswechsel auch von den Beschäftigten aus, die sich beruflich verbessern wollen oder aus privaten Gründen einen neuen Arbeitsplatz suchen, so Bosch.

Darüber hinaus macht auch die Digitalisierung vor kaum einer Branche halt. Das Stichwort heißt Arbeit 4.0. Kurz gesagt: Die Berufswelt wird komplexer; es ist immer mehr Wissen erforderlich. Gerhard Bosch empfiehlt, durch eine kontinuierliche Modernisierung der Berufsbilder Innovationsprozesse in den Betrieben anzustoßen.

Die Fachkräftesicherung wird auf Dauer nur gelingen, wenn sie gleichberechtigt auf beiden Säulen – der beruflichen und der akademischen Ausbildung – beruht. Wir vertreten die These, dass die hohe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auch aus dem Ineinandergreifen von beruflicher und akademischer Bildung resultiert.


Fazit:
Das Menschenrecht auf umfassende Bildung und Ausbildung ist und bleibt die Leitmarke gewerkschaftlicher Bildungspolitik.


Unsere Überlegungen in Form der aufgestellten Thesen sollen einen Beitrag zum Diskurs leisten, ohne abschließend alle Fragen des Themas bearbeitet zu haben. Wir erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch an diesen Essay. Viele weitere Aspekte gehören darüber hinaus in die Debatte, so zum Bespiel die Frage, welche Wirkungen Geschlecht und Migrations-hintergrund zusammen mit dem Faktor der sozialen Herkunft auf die Bildungswege haben, oder die Frage, welche Rolle Bildungsabbrüche spielen und welche Therapien denkbar sind, schließlich die Frage nach der Durchlässigkeit innerhalb der Hochschule, vor allem vom Bachelor in den Master. Dieser Beitrag soll also nur ein Anstoß sein, der weitere und differenzierte Diskussionen unterstützen möge.

Versuchen wir ein Fazit: Natürlich ist Wissen ökonomisch relevant, es ist notwendig den technologischen Herausforderungen entsprechende Qualifikationen gegenüber zu stellen. Der Blickwinkel, aus dem wir als Gewerkschafter/innen über Bildungswege und Bildungschancen diskutieren, ist jedoch ein anderer: Das Recht auf umfassende Bildung und Ausbildung als Menschenrecht ist, unabhängig von der Herkunft, Leitmarke gewerkschaftlicher Bildungspolitik. Hier darf es in der Betrachtung auch keinen Unterschied zwischen der hochschulischen und beruflichen Bildung geben. Entscheidend aus Sicht der Gewerkschaften ist und bleibt, dass jeder junge Mensch die gleichen Chancen auf dem Weg durch das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt hat. Diesen gilt es zu gestalten, das Ziel einer Chancengleichheit fest vor Augen.


Antonia Kühn, Abteilungsleiterin Hochschulen, Wissenschaft und Forschung beim DGB NRW, und Norbert Wichmann, Abteilungsleiter Bildung, Berufliche Bildung, Handwerk beim DGB NRW


Quelle: DGB NRW, Kühn und Wichmann, Juni 2015, diskurs


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Schlagworte zu diesem Beitrag: Ausbildung, Qualifizierung
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 08.06.2015