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Wir stehen vor der Wahl

Vertane Chancen

Zum Ende dieser Legislaturperiode ein positives Fazit zu ziehen, fällt schwer. In der Bildungspolitik wurde in den vergangenen Jahren immer wieder an einzelnen Stellschrauben gedreht – doch es fehlte der Versuch, das Bildungssystem als Ganzes zu reformieren und an internationale Standards heranzuführen. Zwar wird in Sonntagsreden immer wieder betont, Bildung sei der Schlüsselfaktor für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft. Auch das Recht jedes Menschen auf Bildung wird immer wieder propagiert. Doch daraus folgt kein grundlegendes Konzept.

Einzelne Maßnahmen weisen in die richtige Richtung. Dazu zählen der Ausbau der Kindertagesstätten, aber auch der Hochschulpakt und die Exzellenzinitiative. Doch überwiegend beschränkt sich politisches Handeln auf Absichtserklärungen, „Bildungsgipfel“ und spontane Investitionen in Krisenzeiten. Von einem durchlässigen Bildungssystem, das allen Menschen unabhängig von Herkunft und Geldbeutel Bildungszugänge und -chancen eröffnet, sind wir meilenweit entfernt.

Die Föderalismusreform I hat diese Stagnation begünstigt. Sie hat dezentrale Zuständigkeiten für Vorschule, Schule und Hochschule festgeschrieben. Gemeinsame Instrumente der Bildungsplanung von Bund und Ländern wurden abgeschafft, ein abgestimmtes Handeln fehlt. Der Bildung schadet das.

In der beruflichen Weiterbildung konnten wir immerhin einen großen Erfolg verbuchen. Mit intensivstem Einsatz ist es gelungen, den Bereich in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufzunehmen. Dennoch fehlt immer noch die notwendige große Lösung: Ein flächendeckender Mindestlohn. Alle Bemühungen in diese Richtung sind an beharrlichen, konservativen Kräften gescheitert.

Im September endet die Zeit dieser Regierung. Getragen von der Sorge um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und im Interesse aller Menschen stellt ver.di nun Forderungen an die künftigen politischen Akteure:


Eine grundlegende Reform des Bildungssystems

Das Bildungssystem ist bundeseinheitlich so zu gestalten, dass es
  • allen Menschen einen gleichberechtigten, gebühren- und diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung eröffnet

  • die persönlichen Entwicklungspotenziale aller Menschen fördert und sie zur Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben befähigt

  • international anerkannte Abschlüsse gewährleistet

  • Teilqualifikationen anerkennt und Wege zu weiteren Qualifizierungen und Abschlüssen eröffnet

  • den AbsolventInnen durch eine hohe Qualität von Bildung und Ausbildung und vielseitig verwendbare Abschlüsse gute Berufs- und Karrierechancen eröffnet

  • durch sein hohes Niveau auch die Qualität von Arbeit – Arbeitsprozessen, Arbeitsbedingungen und Produkten – steigert.

Anzusetzen ist dabei im Bereich der frühkindlichen Erziehung. Ungleiche Startbedingungen können am besten durch individuelle Förderung im Kleinkindalter ausgeglichen werden. Eine leistungsfähige Vorschulerziehung entwickelt die Sprachfähigkeit, fördert die frühkindliche Bildung und weckt den Spaß am Lernen. Sie ist dadurch in der Lage, herkunftsbedingte Schranken abzubauen. Notwendig ist deshalb ein flächendeckender, gebührenfreier Zugang zu Ganztagskrippen- und -kindergartenplätzen. Stand in diesem Bereich früher die Betreuungsfunktion im Vordergrund, so müssen die Einrichtungen nun einen klaren Bildungsauftrag bekommen. Die Qualifikation der ErzieherInnen ist noch stärker als bisher an diesen Anforderungen auszurichten.

Um alle Begabungen und Entwicklungspotenziale angemessen zu fördern, ist eine Abkehr vom derzeitigen Schulsystem notwendig. Die Selektion nach der Primarstufe gehört abgeschafft. Sie muss ersetzt werden durch ein System, das Integration ins Zentrum stellt und alle Kinder angemessen fordert und fördert. ver.di setzt sich deshalb für eine Gemeinschaftsschule bis zum Ende der 10. Klasse ein. Die soll generell im Ganztagsbetrieb geführt werden, dort müssen Lehr- und Lernmittelfreiheit herrschen, und die SchülerInnen erwerben neben fachlichen auch soziale und methodische Kompetenzen. Erst danach, in der Regel mit Vollendung des 16. Lebensjahres, sollen die „bildungsmündigen“ Jugendlichen über ihren weiteren Bildungsweg entscheiden.

Für den Bereich der beruflichen Bildung ist ein Grundrecht auf Ausbildung zwingend geboten. Um das einlösen zu können, muss den Jugendlichen ein ausreichendes Angebot betrieblicher Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Selbstverpflichtung der Wirtschaft das nicht garantieren kann. Deshalb ist eine solidarische, konjunkturunabhängige Umlagefinanzierung einzuführen. Die hohen Standards der mindestens dreijährigen dualen Ausbildung sind dabei selbstverständlich zu erhalten. Darüber hinaus muss ein Qualifizierungsangebot geschaffen werden, das es ermöglicht, auch über Ausbildungsbausteine zu anerkannten Berufsabschlüssen zu gelangen.

Im Bereich Hochschule fordert ver.di, dass die Gesamtzahl der Studierenden wächst und die Kapazitäten sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgebaut werden. Die Sonderprogramme des Bundes müssen deshalb von der Ausnahme zur Regel werden. Zentral ist auch, dass mehr Menschen aus bildungsfernen Schichten studieren können. Deshalb kämpft ver.di für ein gebührenfreies Studium bis zum höchstmöglichen, berufsqualifizierenden Abschluss. Außerdem ist die Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen Hochschultypen und zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu erhöhen.

Lebensbegleitendes Lernen wird immer wichtiger, damit Menschen auf Dauer Chancen am Arbeitsmarkt haben. Deshalb kommt dem Weiterbildungssektor immer stärkere Bedeutung zu. Der Bund muss mit Gesetzen und Rahmenbedingungen für ein flächendeckendes und allen zugängliches Angebot sorgen, damit auch alle Erwachsenen ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können. Dazu gehört die Absicherung von Lernzeiten, die finanzielle Förderung der Aufwendungen, die Schaffung von Beratungsstrukturen sowie Qualitätssicherung und Transparenz.

Jede Art von Bildung ist auf den freien Zugang zu Wissen und Information angewiesen. Ein umfassendes Netz von Bibliotheken mit unentgeltlichem und uneingeschränktem Zugang ist dafür eine wichtige Grundlage. ver.di setzt sich deshalb für ein Bibliotheksrahmengesetz auf Bundesebene ein.

Chancengleichheit in der Bildung bedeutet neben dem kostenfreien Zugang zu allen Einrichtungen auch die Förderung des Lebensunterhalts der Lernenden. ver.di fordert, die bestehenden Fördersysteme so zusammenzufassen und umzugestalten, dass bis zum Erreichen der Bildungsmündigkeit mit Vollendung des 16. Lebensjahres die Eltern eine Unterstützung erhalten. Deren Umfang muss den problemlosen Besuch der Bildungseinrichtungen dieser ersten Lebensphase ermöglichen. Anschließend erhält jede/r Heranwachsende ein „Bildungsgeld“ – unabhängig vom eingeschlagenen Bildungsweg und so angelegt, dass davon die Lebenshaltungskosten gedeckt werden können. Die Bezugsdauer umfasst auch das Studium und reicht bis zum höchsten, für den Arbeitsmarkt qualifizierenden Abschluss.

Die Föderalismusreform II muss genutzt werden, um die Sicherung von Bildung als Zukunftsinvestition festzuschreiben. Dabei geht es darum, die Kompetenzen von Bund und Ländern so zu gestalten, dass Bildung nicht weiter einem Sammelsurium von Regelungen unterliegt. Vielmehr sollte sie ein System mit klaren und nachvollziehbaren Leitlinien sein, die sich an Zielen orientieren. Chancengleichheit und Durchlässigkeit gehören unbedingt dazu.


Klaus Böhme


Quelle: biwifo report 02/2009

Die aktuelle Ausgabe des biwifo-Report enthält eine ausführliche Dokumentation der Positionen der Bundestagsparteien zu wichtigen bildungspolitischen Fragen. Sie kann hier als pdf-Datei heruntergeladen werden.


Verweise zu diesem Artikel:
Schlagworte zu diesem Beitrag: Lebenslanges Lernen
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 23.07.2009