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Lage der politischen Bildung in Deutschland“

Vizepräsidentin Petra Pau:

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kollege Ernst-Reinhard Beck für die Unionsfraktion.

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Demokratie ist kein Selbstläufer. Demokratie ist keine sich selbst erneuernde Ressource. Wir selbst sind Träger der Demokratie. Sie lebt nur, wenn wir die richtigen Voraussetzungen schaffen, sie erhalten und stetig erneuern. Jeder, der sich in die Demokratie einbringt, braucht das nötige Rüstzeug, um einen qualifizierten Beitrag leisten zu können. Dafür ist die politische Bildung ein unabdingbares Instrument.

Die Demokratie ist eine Regierungsform, die nicht gerade darauf angelegt ist, das Herz zu erwärmen. Sie ist formal und manchmal nüchtern und aufwendig.

Die politische Bildung vermittelt die Einsichten, ohne die die Demokratie blutleer und saft- und kraftlos bliebe und manchmal auch nur schwer verständlich. Politische Bildung wirkt dem entgegen. Demokratie erfordert - das ist eine Binsenweisheit - stetige Mitarbeit. Dazu regt politische Bildung an.

Durch sie können die Menschen Zusammenhänge verstehen und erkennen. Sie stellt den Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, politische Bildung ist eine zentrale Aufgabe unserer Politik und unserer demokratischen Parteien. Ich verweise auf das Parteiengesetz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es gelungen, eine demokratisch geprägte politische Kultur aufzubauen. Seit der Wiedervereinigung gilt dies auch für die neuen Bundesländer. Dies ist auch ein Erfolg politischer Bildung.

Wenn wir auf die Anfänge unserer Bundesrepublik zurückblicken, so war es das einzig Richtige und ein wichtiger Schritt, für eine demokratische Zukunft Einrichtungen der politischen Bildung zu schaffen. Diese haben sich über Jahrzehnte bewährt. Dies gilt vor allem für Einrichtungen, die in öffentlichem Auftrag arbeiten wie die Bundeszentrale für politische Bildung, die Landeszentralen für politische Bildung sowie die Stiftungen der Parteien, aber auch für die Einrichtungen freier Träger wie etwa den Bundesausschuss für Politische Bildung.

Die Investitionen in politische Bildung haben sich gelohnt und lohnen sich weiterhin, Pfennig für Pfennig, Cent für Cent, Euro für Euro.

Meiner Meinung nach besteht Konsens darüber, dass politische Bildung immer wichtiger wird. Bei aller Genugtuung darüber, dass uns der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft gelungen ist, dürfen wir die deutlichen Warnzeichen der heutigen Zeit nicht übersehen. Geht nicht allenthalben die Wahlbeteiligung zurück? Haben nicht alle Parteien Nachwuchsprobleme? Wird nicht zunehmend mit der Politik und mit Politikern heftig ins Gericht gegangen, über sie gemeckert und gelästert?

Demokratie, Politiker und Politikverdrossenheit sind nicht nur wissenschaftliche Begriffe. Im politischen Alltag werden wir immer deutlicher mit diesen Phänomenen und deren Konsequenzen konfrontiert. Die Bürger verlieren das Vertrauen in die Demokratie und in die Politik, wenn wir hier nicht höllisch Acht geben.

Ein wichtiger Grund für den Vertrauensschwund vieler Menschen ist meiner Meinung nach das mangelnde Verständnis für die ablaufenden politischen Prozesse. Nationale Politik, die oft gescholtene europäische Politik wie auch die global verlaufenden Prozesse sind mitunter so kompliziert, dass sie ohne einen Grundstock an politischer Bildung nicht verstanden werden können. Frust und Abwendung sind die Folgen. Was man nicht versteht, kann kein Vertrauen schaffen. Deshalb kann man mit Recht behaupten: Die schwierigen politischen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, können nur erfolgreich gemeistert werden, wenn es möglichst viele politisch gebildete Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande gibt

Wir müssen uns hierbei vor allem den neuen Herausforderungen stellen, denen sich die politische Bildung ausgesetzt sieht. Wir müssen verstärkt auf Migranten und ebenso auf bildungsferne und politikferne Zielgruppen zugehen. Es muss der politischen Bildung dabei gelingen, sich neuer Methoden, neuer Formate und neuer Medien erfolgreich zu bedienen. Nur so können wir alle Schichten unserer Bevölkerung wirksam und zielgruppengerecht erreichen. Die bisherigen Ansätze in dieser Richtung sind lobenswert, aber durchaus verbesserungsfähig. Hier sind vielleicht ein ganzes Stück mehr Mut und ein Schuss mehr Kreativität angebracht.

Den Zulauf zu extremistischen Parteien, irrlichternden Populisten und politischen Scharlatanen sehe ich als eine besorgniserregende Entwicklung an, der wir entschlossen und geschlossen begegnen müssen. Wir müssen die Anstrengungen im Kampf gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit auf dem Feld der politischen Bildung verstärken. Die Auseinandersetzung mit Extremismus jeglicher Ausprägung, insbesondere die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Linksextremismus und religiösem Fanatismus, gehört zu den dauernden Aufgaben der politischen Bildung. Hier ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen - ich muss es so sagen, - so gut er ansonsten ist, leider auf dem linken Auge blind, liebe Frau Kollegin Lazar.

Von enormer Bedeutung sind auch die breite Aufarbeitung der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur. Diese Aufarbeitung muss weiter vorangetrieben werden. Das bestätigen aktuelle Studien. Ich bin sehr froh, dass der Antrag der FDP genau in diese Richtung zielt. Jede Investition in Prävention ist wesentlich nachhaltiger und kostengünstiger als aufwendige Folgeprogramme, die sich mit dem Aufräumen der Konsequenzen verfehlter politischer Bildung beschäftigen müssen.

Wir können und müssen es schaffen, dass den politikverdrossenen und apolitischen Menschen, die sich von der Politik abwenden, durch politische Bildung wieder ein Werkzeug in die Hand gegeben wird, das es ihnen ermöglicht, sich als Demokraten ihres eigenen Verstandes zu bedienen, sich in ihre eigene Sache einzumischen, und sie davon abhält, politischen Scharlatanen nachzulaufen. Die Aufgabe politischer Bildung ist niemals erledigt. Politische Bildung ist Daueraufgabe. Sie ist ein ganz wesentlicher Baustein im Konzept des lebenslangen Lernens, das in unserer schnelllebigen Zeit immer stärker propagiert und gefordert wird und an dessen Umsetzung es trotzdem oftmals hapert. Politisch gebildete Bürger bilden die Basis einer stabilen Demokratie. Deshalb müssen wir die politische Bildung nicht nur bewahren, sondern ausbauen. Dies fordern wir in unserem Antrag.

Wir brauchen eine Allianz über Parteigrenzen hinweg. Ich sage das in aller Klarheit und Deutlichkeit. Das, was uns allen wert und teuer ist, die Grundsätze unserer Verfassung, der freiheitliche Rechts- und Sozialstaat, das Leitbild der Menschenwürde, der Sinn für das, was unsere Gesellschaft bei allem, das uns trennt, zusammenhält, braucht Pflege. Diese Pflege sollte vor allen Dingen durch die Einrichtungen politischer Bildung sowie durch einen verbesserten Sozialkundeunterricht an unseren Schulen erfolgen.

Der unter Bildungspolitikern und Experten überall akzeptierte Beutelsbacher Konsens stellt das Gemeinsame heraus. Ich erläutere es vielleicht einmal für die Nichtfachleute der politischen Bildung. Es gibt hier zwei Grundsätze.

Erstens orientiert sich die politische Bildung daran, das, was in der Realität umstritten ist, auch in der politischen Bildung umstritten und kontrovers darzustellen.

Das Zweite ist: Wir haben eine Verantwortung gegenüber denen, die wir politisch bilden. Wir dürfen sie nicht überwältigen. Dies unterscheidet politische Bildung übrigens von Wahlkampf und politischer Werbung; das sei an dieser Stelle erwähnt.

Der Beutelsbacher Konsens, der das Gemeinsame herausstreicht, ist eine wichtige Leitschnur. Er ist Garant für eine erfolgreiche politische Bildung. Die Zeit der fruchtlosen Grabenkämpfe in der politischen Bildung ist, wie ich meine, Gott sei Dank längst überwunden. Lassen wir diese Pflanze, die politische Bildung, nicht aufgrund mangelnder Beachtung und ungenügender Ausstattung verkümmern! Sie ist international anerkannt. Sie stärkt unsere Demokratie und kann uns Politikern den Weg ebnen. Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie alle um eine breite Unterstützung der politischen Bildung und all ihrer Einrichtungen in unserem Land und um Zustimmung zu unserem Antrag. Herzlichen Dank.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Christian Ahrendt.

Christian Ahrendt (FDP):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich dem Thema politische Bildung mit einem Zitat von Oscar Wilde nähern:

Bildung ist etwas Wunderbares. Doch sollte man sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wirklich Wissenswertes nicht gelernt werden kann.

Als Jurist und Innenpolitiker habe ich mir überlegt, wie ich mich diesem Thema auf dieser Basis nähern kann. Man kann politische Bildung in einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand zerlegen. Der objektive Teil ist gelerntes Wissen, der subjektive Teil ist die Vermittlung von Werten.

Was den objektiven Tatbestand betrifft, liegen auch konkrete Messergebnisse vor. Wir können Menschen fragen, ob sie wissen, was am 9. November 1989 geschah. Der Stern hat dies vor kurzem im Rahmen einer umfangreichen Studie getan. Nur jeder dritte Deutsche wusste, dass an diesem Tag die Berliner Mauer fiel. Aus derselben Umfrage erfahren wir auch, dass nur jeder dritte Deutsche weiß, wann die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden ist und wann die DDR gegründet worden ist. Im Umkehrschluss heißt das, dass 70 Prozent der Deutschen nicht wissen, wann die Mauer gefallen ist und wann die Bundesrepublik gegründet wurde.

Auch den Einbürgerungstest hat man unseren Mitbürgern testweise vorgelegt. Auch hier war als Ergebnis festzustellen, dass das politische und geschichtliche Allgemeinwissen nicht besonders gut ausgeprägt sind.

Welches Fazit können wir daraus ziehen? Um die politische Bildung der Menschen ist es nicht sehr gut bestellt, wenn 70 Prozent der Deutschen die bedeutendsten Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte nicht kennen. Die Konsequenz lautet, dass man sich die Lehrpläne vornehmen muss. Wir brauchen einen anderen, einen besseren Geschichtsunterricht. Wir brauchen eine andere, eine bessere Erwachsenenbildung. Es ließen sich, wenn man diese Kette fortsetzen wollte, noch weitere Beispiele anführen, zum Beispiel Fragen im Hinblick auf das Funktionieren unserer Demokratie.

Hierbei geht es - jetzt komme ich ein Stück weit auf das eingangs erwähnte Zitat zurück - nur um objektives Wissen, um Kenntnisse historischer oder politischer Ereignisse. Dieses Wissen ist zweifellos wichtig. Es zu besitzen heißt aber noch lange nicht, dass man tatsächlich über politische Bildung verfügt. Allgemeine Geschichts- und Wissensvermittlung allein reicht heute nicht mehr aus, um politische Bildung zu betreiben. An dieser Stelle komme ich zum subjektiven Tatbestand politischer Bildung - er ist eigentlich ein Kernanliegen -: Politische Bildung soll in erster Linie demokratische Spielregeln vermitteln, bzw. - etwas anspruchsvoller formuliert - politische Bildung soll im Bewusstsein der Bürger ein demokratisches Verständnis verankern.

Demokratisches Bewusstsein unterscheidet sich von erlernbarem Wissen in erster Linie dadurch, dass es hierbei um ein Demokratieverständnis geht, das nicht durch bloßes Sachwissen verinnerlicht werden kann. Dass sich dieses Bewusstsein nicht von selbst bildet, zeigen zahlreiche Forschungsergebnisse, die zumindest hellhörig machen sollten.

So hat eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung, die jüngst vorgelegt worden ist, ergeben, dass es eine starke Tendenz zu rechten Ansichten gibt. So wurde den Teilnehmern die Aussage vorgelegt:

Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.

Dieser Aussage haben 22,2 Prozent der Befragten zugestimmt. Bei den Befragten aus den neuen Bundesländern lag die Zustimmung bei 29,3 Prozent. In den alten Bundesländern stimmten 20,4 Prozent dieser Aussage zu. Dabei handelt es sich nicht um ein Signal, das die alten Bundesländer erleichtern kann.

Es gibt weitere Ergebnisse dieser Studie. Ein Ergebnis macht beispielsweise deutlich, dass Antisemitismus in den alten Bundesländern stärker verbreitet ist als in den neuen Bundesländern. An der Spitze liegt hier Bayern, gefolgt von Thüringen in den neuen Bundesländern. Bei der Verharmlosung des Nationalsozialismus liegt Baden-Württemberg laut dieser Umfrage vor Mecklenburg-Vorpommern an der Spitze.

Das heißt, dass man nicht vorschnell sagen kann, es handele sich um eine Ost-West-Thematik oder um eine Nord-Süd-Thematik. Vielmehr ist es ein Problem, das die Bundesrepublik in ihrer Gesamtheit berührt. Es zeigt zugleich, dass diese antidemokratischen Einstellungen trotz politischer Bildung in den letzten Jahren nicht verschwunden sind, sondern eher zugenommen haben.

Das drückt sich nicht unbedingt in Wahlergebnissen aus. Wichtiger als Wahlergebnisse sind manchmal Einstellungen der Menschen. Einstellungen sind latent vorhanden. Was latent vorhanden ist, kann immer angesprochen werden. Was unterschwellig vorhanden ist, kann sich verändern, wenn andere Bindungskräfte wichtiger werden. Diese Studie bezeichnet wirtschaftlichen Wohlstand als sogenannte "Plombe". Wenn sich diese Plombe löst, werden Einstellungen sichtbar, die man sonst nicht wahrgenommen hat. Diese Diagnose führt zwangsläufig zu weiteren Fragen, die man sich stellen muss: Was passiert, wenn die Plombe herausfällt?

Wie sieht es unter der Plombe aus? Genügt es, sich nur um einen Klebstoff zu kümmern, der Plombe und Zahn so fest verbindet, dass keine Karies mehr entstehen kann?

Heute ist es die Kernaufgabe der politischen Bildung, diese Fragen zu beantworten. Demokratisches Bewusstsein ist nicht einfach automatisch vorhanden, sondern bildet sich in einem fortwährenden Prozess. Vor allem Kinder und Jugendliche nehmen Denkformen und Verhaltensweisen ihrer Umwelt auf. Umso mehr brauchen sie eine entgegenkommende Umgebung, die Anlässe, Anstöße, Gelegenheiten und Mitwirkungsmöglichkeiten schafft. Dadurch erlernen vor allem Jugendliche und Kinder demokratische Spielregeln. Es ist zuerst Auftrag der Politik, nicht unbedingt der politischen Bildung, eine solche gesellschaftliche Umgebung zu schaffen.

Man muss innovative Antworten auf die Herausforderungen finden, vor denen die politische Bildung heute steht. Allein die Vermittlung von Geschichtswissen reicht nicht mehr aus. Geschichtsvermittlung wird ohne Zeitzeugen immer schwieriger; wir haben keine Menschen mehr, die geschichtliche Erlebnisse aus länger zurückliegenden Zeiten hautnah schildern können.

Das Schulmuseum in Leipzig ist ein Beispiel für die innovative Vermittlung von Geschichtswissen. Dort erfahren Schüler unter der Anleitung von Historikern und Pädagogen in Rollenspielen, wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu sein. Dort wird beispielsweise in Projektarbeiten der Frage nachgegangen, wie sich Schüler in der DDR oder in der NS-Diktatur, die Repressalien ausgesetzt waren, den Zwängen widersetzt haben und wie sich das in ihren Lebensläufen niedergeschlagen hat.

Solche Projekte kosten Zeit. Zeit ist in der Schule und in der politischen Bildung ein knappes Gut; sie wird aber gebraucht, damit nachhaltiges Wissen vermittelt werden kann. Politische Bildung braucht an dieser Stelle vor allem mehr Zeit, um neben der reinen Wissensvermittlung im Rahmen von Projekten auch eine Geschichtsvermittlung zu betreiben, die Geschichte, auch wenn es nur über Rollenspiele geschieht, ein Stück weit erlebbar macht.

Der Weg, den das Leipziger Schulmuseum an dieser Stelle gegangen ist, ist ein vielversprechender Weg. In der politischen Bildung ist das leider nur ein Trampelpfad. Unsere Aufgabe ist es, einen Beitrag dazu zu leisten, dass dieser Trampelpfad zu einer Hauptstraße ausgebaut wird. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Fograscher.

Gabriele Fograscher (SPD):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Demokratie braucht politische Bildung, und politische Bildung braucht Demokratie im Sinne von Vielfalt an Angeboten, Methoden und Trägern.

Wir haben in der letzten Zeit im Bundestag einige Anträge dazu beraten und verabschiedet, zum Beispiel zum Antisemitismus oder zur Bekämpfung von Extremismus. In all diesen Anträgen haben wir bessere und mehr politische Bildung gefordert. Deshalb ist es gut, wenn wir uns heute einmal schwerpunktmäßig mit der politischen Bildung beschäftigen.

Alle Fraktionen - bis auf die Linke - haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt und Anträge vorgelegt. Darin wird deutlich: Die Erwartungen an die politische Bildung sind hoch. Sie soll Demokratie stärken, Extremismus bekämpfen, Integration unterstützen, Wissen vermitteln, Historisches und Aktuelles aufarbeiten, Teilhabe fördern, Politik verständlich machen und - Herr Beck, Sie haben darauf hingewiesen - mehr Akzeptanz für die parlamentarische Demokratie schaffen.

Politische Bildung ist deshalb eine gesamtstaatliche und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb ist es nicht damit getan, Herr Ahrendt, wie Sie im FDP-Antrag fordern, dass sich die Kultusminister mit der politischen Bildung beschäftigen. Es ist natürlich auch eine Bundesaufgabe, der wir uns gestellt haben und auch weiter stellen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung wird aus dem Haushalt des BMI finanziert. In den Haushaltsberatungen ist es uns gelungen, mehr Geld für die Bundeszentrale einzustellen.

Ich erwarte, dass der Wille des Parlaments beachtet wird und das BMI beim Erbringen seiner globalen Minderausgabe nicht die Bundeszentrale für politische Bildung zu Einsparungen zwingt.

Die Bundeszentrale hat bereits ein Konzept für Vorhaben vorgelegt, die aus den zusätzlichen Mitteln realisiert werden können. Dabei will sie auch neue methodische Ansätze erproben. Dazu gehören zum Beispiel die Aktivierung von Erstwählern aus sogenannten politikfernen Zielgruppen oder die Ausbildung von jungen Erwachsenen vor der Europawahl mit dem Ziel, dass diese nach dem Schneeballprinzip versuchen, Gleichaltrige für diese Wahl zu interessieren und zu ermutigen, an der Wahl teilzunehmen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat zusammen mit Kooperationspartnern das Thema "Neue Medien" aufgenommen. Im Zeitalter des Internets genügt es eben nicht mehr, nur Broschüren zu verbreiten. Die Internetseite jugendschutz.net informiert, klärt auf und erläutert Hintergründe.

Die Bundeszentrale hat schwerpunktmäßig in Brandenburg, Hamburg und Bremen ein Projekt realisiert, das sich "Abschied von Hass und Gewalt" nennt und sehr erfolgreich ist. Dabei wird in Jugendgefängnissen gezielt mit rechtsextremistischen Straftätern gearbeitet. Nach der Entlassung werden sie weiterhin betreut. Die Bilanz für 2006 in Brandenburg ist eine eher ermutigende: Von 40 betreuten gewalttätigen Rechtsextremen wurden nur vier wieder rückfällig.

Ebenfalls aus Mitteln des BMI wird das "Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt" finanziert. Es hat die Aufgabe, zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte zu vernetzen, in ihrer Arbeit zu unterstützen und mit Veranstaltungen zum Verfassungstag, dem 23. Mai, politisches Bewusstsein zu fördern. Allerdings braucht das Bündnis für seine vielfältigen Aufgaben auch eine angemessene personelle Ausstattung.

Die politischen Stiftungen, ebenfalls unterstützt aus Mitteln des BMI, leisten eine wertvolle politische Arbeit. So geht zum Beispiel die Friedrich-Ebert-Stiftung neue Wege, indem sie sogenannte Bürgerkonferenzen organisiert, zu denen Bürgerinnen und Bürger eingeladen werden, damit sie sich zu bestimmten Themen wie Rechtsextremismus Wissen verschaffen und direkt Forderungen an die Politik stellen können. Dieses Projekt fördert Partizipation.

Ein weiterer Ansatz ist zum Beispiel die Zukunftskonferenz, die die Friedrich-Ebert-Stiftung in Rheinsberg durchgeführt hat. Sie bringt gesellschaftliche, wirtschaftliche und kommunale Vertreter in einer Stadt oder Gemeinde zusammen, um die Frage zu klären, wie wir in Zukunft leben wollen und wie wir gemeinsam an der Entwicklung unserer Kommune mitwirken können.

Es gibt also viele Möglichkeiten und Wege, demokratische Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln. 340 Träger der politischen Bildung und zahlreiche gesellschaftliche Akteure tragen dazu bei, die aktuellen Veränderungsprozesse zu erklären, zu aktiver politischer Teilhabe zu ermutigen und damit zur Gestaltung des Gemeinwesens beizutragen.

Herr Ahrendt, Sie haben vorhin auf die neueste Studie - die Folgestudie - der Friedrich-Ebert-Stiftung hingewiesen. Leider erreichen wir nicht alle Menschen und Zielgruppen mit politischer Arbeit. Es gibt eine relativ konstante Schicht in der Bevölkerung, die antisemitische, fremdenfeindliche und rechtsextremistische Ansichten hat.

Es ist wahr: Besonders auffällig ist die Ausländerfeindlichkeit in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. Die Zustimmung zum Antisemitismus beträgt in Bayern 16,6 Prozent und in Baden-Württemberg 13,3 Prozent.

Es gibt also keinen Grund, sich zurückzulehnen. Im Gegenteil: Wir müssen die politische Bildung verstärken und weiterentwickeln. Das ist nicht nur Bundesaufgabe, sondern auch Länderaufgabe. In Niedersachsen wurde die Landeszentrale für politische Bildung abgeschafft.

Weil die FDP dort mitregiert, kann sie sich dafür einsetzen, dass die Landeszentrale wieder eröffnet wird.

Ich will noch auf die vielen zivilgesellschaftlichen Träger . dazu gehören zum Beispiel Vereine wie „Gegen Vergessen - Für Demokratie“ oder „Gesicht zeigen!“ hinweisen, die ehrenamtlich arbeiten und kreative Wege der politischen Bildung gehen. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur politischen Bildung und für unsere Demokratie. Ihnen möchte ich zum Schluss meiner Rede ganz besonders danken.

Ich glaube, in den Beratungen werden wir gute Ansätze aller Parteien aufgreifen und dieses Thema weiter diskutieren. Danke schön.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider für die Fraktion Die Linke.

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke zunächst den Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, die sich darum bemüht haben, dieses Thema an einer exponierteren Stelle diskutieren zu können. Ich weiß, dass Sie es nicht zu verantworten haben, dass der Tagesordnungspunkt wieder abgesetzt worden ist und dass wir dieses wichtige Thema heute praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutieren.

Daran merken wir auch, dass wir uns an der Stelle als Fachpolitiker hinsichtlich der Frage der Wertigkeit von politischer Bildung und der Notwendigkeit der Förderung vielleicht sehr viel schneller einig sind als in unseren Fraktionen. Dort haben wir bestimmt noch einiges an Werbung zu betreiben.

So wird es Sie auch nicht überraschen, dass wir in zentralen Fragen gar nicht so uneinig mit Ihnen sind, was die Inhalte Ihres Antrags anbelangt. Ja, auch wir als Linke sehen es als Ziel der politischen Bildung an, die aktive Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte in unserem demokratischen Rechtsstaat zu fördern. Ja, auch wir als Linke sehen es als Aufgabe der politischen Bildung, das bürgerschaftliche Engagement in diesem Bereich zu fördern und zu stärken. Schließlich ist für uns auch wichtig, zeitgemäße Formate politischer Bildung für politik- und bildungsferne Zielgruppen zu entwickeln.

Bei aller grundsätzlichen Zustimmung haben wir auch noch eine Reihe von Fragen im Detail. Das werden wir in den Ausschüssen noch vertiefen können. Ich will nur einige Punkte ansprechen.

Auch wir sehen die Notwendigkeit, Migranten stärker als Zielgruppe für politische Bildung zu begreifen. Sie schreiben, dass gerade Zugewanderten die Grundzüge unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu vermitteln sind, um Integration auch politisch im demokratischen Sinne gelingen zu lassen. Ich muss Ihnen dazu sagen: Das darf keine Einbahnstraße sein. Vielmehr wird es nur dann funktionieren, wenn Sie auch die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen für die hier lebenden Menschen ohne Migrationshintergrund im Blick behalten.

Sobald Sie außerschulische Jugendbildung ansprechen, habe ich Probleme, das mit den erheblichen Kürzungen im Bereich der Jugendhilfe - auch wenn diese von den Ländern und Kommunen vorgenommen worden sind - in Einklang zu bringen. Dramatisch wird es doch dort, wo Jugendklubs geschlossen werden und NPD oder andere Rechtsradikale als Nachmieter einziehen.

Sie sprechen sich dafür aus, dass die wissenschaftlichen Grundlagen der politischen Bildung und insbesondere die Forschung über Voraussetzungen, Methoden und Wirksamkeit des politischen Lernens stärker gefördert werden sollen. Das kann ich nur schwer in Einklang bringen mit dem, was wir zuletzt in vielen politikwissenschaftlichen Fachbereichen an Universitäten bezüglich der Berufung bzw. eher Abberufung von Professoren erlebt haben.

Wer Ihren Antrag liest, könnte meinen, dass mit der Politik grundsätzlich alles in Ordnung sei und dass dies den Betroffenen nur besser und intensiver vermittelt werden müsse. Etwas mehr Selbstkritik in Bezug auf Politikverdrossenheit stünde uns als Abgeordneten durchaus an.

Politisches und bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine Frage von persönlicher Bereitschaft, sondern hängt auch mit der Schaffung von realen Möglichkeiten zusammen.

Ein letzter Einzelkritikpunkt leitet über zu dem Antrag der FDP. Wer allzu leicht daherredet und NS-Terrorherrschaft und SED-Diktatur in einem Atemzug nennt, leugnet die historische Einmaligkeit der Naziverbrechen und verharmlost den Nationalsozialismus.

Während das im Antrag der Koalitionsfraktionen lediglich eine Nebenbemerkung darstellt, ist es der einzige Inhalt des FDP-Antrags. Ich muss Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Ihr Antrag ist weder modern noch liberal, sondern einfach nur grottenschlecht. Ich will das an zwei Punkten deutlich machen.

Ich finde es interessant, wie Sie dem Extremismus durch verstärkte ökonomische Bildung begegnen wollen. Man könnte meinen, dass Jugendliche deshalb so radikal reagieren, weil sie die ökonomischen Zusammenhänge und Notwendigkeiten einfach nicht verstanden haben. Diese Jugendlichen sind aber nicht fiktiv, sondern ganz real die Verlierer eines völlig falsch verstandenen Marktradikalismus, wie Sie ihn schon im Lambsdorff-Papier von 1982 gefordert haben. Da muss man Politik nicht verstehen; da muss man Politik verändern.

Herzallerliebst ist Ihre Behauptung, dass linksextreme Gruppierungen das Verblassen der konkreten Erinnerung an die DDR oder Nostalgie nutzen würden, um Jugendliche zu beeinflussen. Das mag in Ihren Albträumen so sein. Es hat aber mit der Realität wenig zu tun. Die Gruppierungen, die tatsächlich existieren und einem verquasten DDR-Bild huldigen, haben als Jüngste .Jugendliche. von 60 Jahren in ihren Reihen. Sie spielen weder quantitativ noch qualitativ irgendeine Rolle im Vergleich zu der Vielzahl rechtsextremer Gruppierungen.

Was die Aufarbeitung anbelangt, hat eine andere Partei in diesem Hause schon die Erfahrung machen müssen, dass das auf einen zurückfallen kann. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie gleich zwei Blockparteien übernommen haben - darüber haben Sie bis heute noch nie geredet - und dass Sie noch nicht einmal auf Teile des Vermögens verzichtet haben, wie das die CDU getan hat. Ich darf Sie daran erinnern, dass man in der letzten Volkskammer festgestellt hat, dass von diesen beiden Blockparteien in der Volkskammer sitzende Liberale zu 50 Prozent IMs der Stasi waren.

- Es ist mir schon klar, dass es darüber Aufregung gibt, weil die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nur dann angenehm ist, wenn man glaubt, auf der richtigen Seite zu sein. Ich bin übrigens Saarländer. Mir werden Sie eine SED-Vergangenheit ganz schlecht anhängen können.

Von unserer Seite gibt es große Zustimmung zum Antrag der Grünen - trotz einiger Schwächen im Forderungsteil -, insbesondere zu der Aussage, dass die Demokratie von der Mitwirkung jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft lebt. Dazu muss der Staat aber auch entsprechende Gesetze und Strukturen schaffen. Wir stimmen mit den Grünen auch hinsichtlich der Bewertung des Rechtsextremismus überein. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob man auf dem linken Auge blind ist, sondern das hat etwas mit der Quantität und Qualität solcher Gruppierungen zu tun. Daher verweisen die Grünen völlig zu Recht auf den Extremismus der Mitte und erheben die Forderung, die politische Bildung im Kampf gegen Rechtsextremisten besser zu nutzen.

Wir sind vor allen Dingen mit den Grünen an dem Punkt einverstanden, an dem es heißt: Man muss sich auch mit der eigenen Politik kritischer auseinandersetzen, wenn man mehr Engagement in der Politik fordert. In diesem Sinne hoffe ich auf noch viele fruchtbare Diskussionen, auch wenn wir uns an manchen Stellen sicherlich heftig streiten können. Herzlichen Dank.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Monika Lazar das Wort.

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Demokratie hat ihren Namen erst verdient, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger aktiv an ihr beteiligen. Das geschieht in Deutschland leider nicht ausreichend. Viele Menschen sind mit den demokratischen Parteien und ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten unzufrieden. Nur 39 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger bezeichnen sich als rundum zufriedene Demokraten, wie eine aktuelle Befragung von Forsa-Institut und FU Berlin ergab. 14 Prozent halten die Demokratie sogar für die falsche Staatsform. Die teilweise alarmierend hohen Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien spiegeln diesen Vertrauensverlust wider. Bedenklich sind auch die oft niedrigen Wahlbeteiligungen. Politische Bildung muss der Demokratiemüdigkeit entgegenwirken, indem sie Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen erklärt und Beteiligungsformen aufzeigt. Nur wer weiß, wie unsere Demokratie funktioniert, kann sie aktiv mitgestalten.

Erst fundierte Informationen ermöglichen ein Verständnis von Demokratie im Gegensatz zur Diktatur. Heute fühlen sich viele Menschen angesichts der großen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen frustriert und resignieren. Dort setzen neonazistische Organisationen gezielt an. Sie greifen Frustrationen auf und bringen Sündenbocktheorien und Scheinlösungen unter das Volk. Der Vertrauensverlust in unserer Demokratie sowie ein Gefühl von Macht- und Perspektivlosigkeit treiben so bundesweit Menschen in die Fänge der Rechtsextremisten. Neonazistische Ideologien stellen aktuell die größte Gefahr für unsere Demokratie dar.

Wenn in unserem Einwanderungsland ein gutes Fünftel der Bevölkerung ausländerfeindlich ist, gefährdet dies das friedliche Zusammenleben. Aggressiv-nationalistische Haltungen bei 15 Prozent bieten einen Nährboden für weitere rechtsextreme Wahlerfolge. Auch Antisemitismus ist noch immer verbreitet; die Zahlen wurden von meinen Vorrednern bzw. Vorrednerinnen schon genannt. Die Ergebnisse der aktuellen Studie von Brähler und Decker im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen: Rechtsextremismus ist kein Randphänomen. Er ist vielmehr von der Mitte der Gesellschaft durchdrungen.

Auch im Bereich des Wissens über die DDR besteht Nachholbedarf. Die DDR war eine Diktatur; daran besteht kein Zweifel. Ich selbst komme aus Ostdeutschland und kenne die Geschichte ganz gut. Viele Menschen wurden Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Repressalien. Aufarbeitung und politische Bildung zur SED-Herrschaft sind daher unerlässlich.

Das gilt besonders für junge Menschen, die oft leider sehr wenig über die DDR wissen. Das kann ich aufgrund meiner Besuche in den Schulen nur bestätigen. Angesprochen werden müssen aber auch ältere Menschen, die nachhaltig von der DDR geprägt wurden. Diese erinnern sich häufig nur einseitig an die positiven Dinge, die es natürlich auch gab.

Demokratie ist kein Selbstläufer. Wir müssen aktiv daran weiterarbeiten. Gerade beim bevorstehenden 20-jährigen Jahrestag der friedlichen Revolution im nächsten Jahr sollte uns das bewusst sein. Wir müssen aktiv um den Erhalt unserer Demokratie kämpfen.

Demokratiemüdigkeit oder sogar Demokratiefeindlichkeit in erheblichen Teilen der Bevölkerung machen deutlich: Wir müssen politische Bildung als gesamtgesellschaftliche Herausforderung im Rahmen der Demokratieentwicklung begreifen. Meine Bundestagsfraktion fordert daher von der Bundesregierung, sich dieser Daueraufgabe zu stellen. Dabei müssen die Bundesländer einbezogen werden. Das unrühmliche Beispiel Niedersachsen unter der schwarz-gelben Landesregierung wurde bereits angesprochen. 2004 wurde die Landeszentrale für politische Bildung in Niedersachsen aufgelöst. Diese Entscheidung ist grundfalsch. Ich hoffe, dass das bald geändert wird.

Stattdessen brauchen wir mehr didaktische Angebote auch für politik- und bildungsferne Gruppen sowie für Migrantinnen und Migranten. Kinder müssen bereits in der frühesten Erziehungsphase in Kindergärten und Grundschulen mit demokratischen Grundwerten vertraut gemacht werden. Es gibt teilweise schon sehr gute praktische Beispiele, die unter anderem aus dem Bundesprogramm gegen Rechtsextremismus finanziert werden. Das muss noch viel mehr Schule machen.

Schülerinnen und Schüler müssen erfahren, dass in der Demokratie ihre Stimme zählt. Doch die Realität sieht anders aus. 70 Prozent der Zehnjährigen durften noch nie über die Gestaltung zum Beispiel ihres Klassenzimmers mitbestimmen. Das klingt vielleicht banal, aber gerade solche alltäglichen Erfahrungen prägen das Demokratiebild junger Menschen nachhaltig.

Schon Kinder brauchen aktive Teilhabe und Gestaltungsmacht. Sie müssen lernen, für etwas einzutreten, Mehrheiten zu organisieren, aber auch einmal verlieren zu können.

So wachsen sie mit einem gesunden Selbstvertrauen heran. Dieser Erziehungsauftrag wurde bei all den Erwachsenen von heute verfehlt, die fälschlicherweise meinen, ohne Mitbestimmungschance den Entscheidungen einer vermeintlichen Politikelite ausgeliefert zu sein. Wir demokratischen Politikerinnen und Politiker müssen das Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen. Doch wie sollen sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes von den demokratischen Organen gut vertreten fühlen, wenn ihnen von diesen in bestimmten Bereichen auch viel Misstrauen entgegengebracht wird? Die Bundesregierung macht es den Menschen in manchen Punkten schwer: Vorratsdatenspeicherung, staatliches Online-hacking und willkürliche Telefonüberwachung sind nur einige Stichworte.

Wer sich vom Staat so ausspioniert fühlt, wird wohl kaum auf dessen demokratische Prinzipien vertrauen können. Wenn sich immer mehr Menschen nicht mit unserer Demokratie identifizieren, sollte uns das alarmieren. Die Bundesregierung muss die Zeichen der Zeit erkennen und endlich aktiver werden. Klassische Wissensvermittlung genügt nicht. Lust auf Demokratie wecken, ihre Vorzüge anschaulich verdeutlichen und konkret erlebbar zu machen - so lautet unser aktueller Auftrag an eine umfassende politische Bildung. Schönen Dank.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Alois Karl.

Alois Karl (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die größte Gefahr für unsere Demokratie geht nicht von den wenigen Extremisten aus, sondern von der Lauheit und von der Interesselosigkeit ganz vieler unserer Staatsbürger.

Das hat neulich der scheidende Präsident des Bayerischen Landtages, Alois Glück, formuliert. Ich glaube, er hat recht. Es ist mehr als ein Körnchen Wahrheit in dieser Aussage, und darüber müssen wir uns unterhalten.

Die Problematik verstärkt sich, weil der Staat keinen Zwang ausüben kann, um Bildung durchzusetzen; ansonsten würde er selbst Züge des totalitären Staates annehmen. Dem freiheitlich-demokratischen Staat bleibt also gar nichts anderes übrig, als die Angebote zu verstärken und attraktiver zu gestalten. Das ist meines Erachtens - der Kollege Beck hat das angesprochen - mehr als eine politische Aufgabe; es ist eine allgemeine Aufgabe unserer Gesellschaft. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das die Jungen wie die Alten, die Einheimischen wie die Migranten einschließt. Es geht darum, nicht bloß Zeitgeschichte zu vermitteln, sondern auch die Grundlagen und die Zusammenhänge. Dazu gehört, die Geschichte der nationalsozialistischen Vergangenheit genauso wie das Unrecht des SED-Staates darzustellen. Es ist menschlich, allzu menschlich, dass man das Negative, das Böse verdrängt und dass man Geschichte verblassen lassen möchte. Doch ist es ein Skandal, so meine ich, wenn sich heute frühere Stasiangehörige zusammentun, um an exponierter Stelle SED-Opfer zu verhöhnen, sei es in Hohenschönhausen oder an anderen historischen Plätzen.

Solche Provokation ruft nicht nach dem Staatsanwalt, sondern eigentlich mehr nach politischer Aufklärungsarbeit. Es geht um die historische Wahrheit und um Aufklärung.

Gewiss, der Schmerz ist gerade dort am stärksten, wo wir ihn hautnah empfinden und wo wir am liebsten das Vergessen sich breitmachen ließen. Es war auch bei uns ein Fehler in den 50er-Jahren, dass wir das noch frische Naziunrecht verdrängt und nicht aufgearbeitet haben. Es war ein Fehler bei uns, die Gräueltaten des Dritten Reiches nicht schonungslos aufzuarbeiten.

Ich persönlich unterstütze den Antrag nachhaltig, weil ich mich an meine eigene Schulzeit erinnere: Die Zeit des Dritten Reiches lag erst 30 Jahre zurück, und sie war in frischer Erinnerung, auch bei manchem Lehrer. Dennoch haben wir über diese Zeit im Unterricht wenig gehört. Bis zum Abitur haben wir die Punischen Kriege dreimal und die napoleonischen Kriege zweimal durchgenommen. Sogar vom Aufstand der Hottentotten haben wir mehr gehört als von der nationalsozialistischen Zeit. Ich glaube, das war ein großer Fehler in unserer Schulzeit.

Daraus müssen wir lernen, wie wichtig es ist, politische Bildungsarbeit heute mutig auf unsere Tagesordnung zu setzen. Das ist auch Aufgabe der Medien. Es gibt viele gute Beispiele. Ich nenne stellvertretend die Serie ZDF-History von Professor Knopp, eine Bildungsarbeit, die sich auch an Nichtfachleute wendet und deren einziges Manko für mich die späte Sendezeit ist. Zu einer guten Sendezeit würde sie sehr viel mehr erreichen.

Wir erschrecken heute über die Ergebnisse der PISA-Studien. Gewiss, die Kompetenzen, die nachgefragt werden, sind oft mangelhaft. Besonders schmerzlich ist das, weil wir in diesen Tagen auch den 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begehen. Hierin sind ebenfalls Kompetenzen und Rechte formuliert, auch das Grundrecht auf Teilhabe an Bildung. Diesem Grundrecht entspricht die Grundpflicht, Bildungsangebote anzunehmen.

Die Demokratie ist zweifellos die schwierigste Staatsform. Sie ist angewiesen auf das Mitleben, auf das Mitmachen und auf das Mittun. Die Demokratie lebt vom Einsatz der aktiven Bürger. Aus diesem Grunde ist es erschreckend, dass 70 Prozent der Schüler von der DDR im Unterricht nichts hören, dass sie glauben, die SED sei keine Partei in einem Unrechtsstaat, in einer Diktatur gewesen oder Konrad Adenauer sei ein Politiker der SED gewesen. Diese Beispiele könnte man fortführen; heute haben wir etliches gehört. Wenn wir hier nicht gegensteuern - da gebe ich Ihnen, Herr Kollege Beck, recht - müsste man alsbald sagen: Deutschland ist ein Entwicklungsland auf diesem Gebiet.

Wir müssen auch die Integrationspolitik ansprechen. Wer in diesem Lande dauerhaft lebt, muss seine Grundlagen kennen. Ich bin dankbar, dass wir die Haushaltsansätze deutlich erhöht haben. Ich bin auch dankbar, wenn wir selber mit gutem Beispiel vorangehen, wenn wir politische Bildung europäisch verstehen, wenn wir darauf hinwirken, dass die EU nicht bloß als ein bürokratischer Moloch erscheint, dass sie vielmehr ein Garant für Frieden, eine friedenstiftende Einrichtung auf diesem Kontinent ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dies zu vermitteln, ist unsere Aufgabe. So gesehen bringt politische Bildung Rendite für die Zukunft, und die gibt es nicht zum Nulltarif. Ich bin zuversichtlich, dass politische Bildungsarbeit die Werte unserer rechtsstaatlichen Demokratie vermitteln kann. Daraus erwächst für uns alle ein Mehrwert. Politisch gebildete junge Leute sind resistent gegenüber Extremisten ganz gleich welcher Art, ganz gleich, ob von der linken oder der rechten Seite. Das so investierte Geld ist gut angelegt, nämlich in die Bildung unserer demokratischen Staatsform und in deren Wehrhaftigkeit.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Karl, achten Sie bitte auf die Redezeit. Sie haben sie schon weit überschritten.

Alois Karl (CDU/CSU):
Ich bin fertig, liebe Frau Präsidentin. . Ich möchte abschließend sagen, dass dem Antrag der Union der Antrag der FDP nahekommt, in dem die linken als auch die rechten Aspekte erwähnt werden. Zum Antrag der Grünen fällt mir nicht sehr viel ein. Vielen herzlichen Dank.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dieter Grasedieck.

Dieter Grasedieck (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland braucht mehr politische Bildung. Das ist die Botschaft unserer heutigen Diskussion. Ernst Reinhard Beck sagte vorhin: -Wir brauchen eine Allianz über Parteigrenzen hinweg-. Ich kann das nur unterstreichen.

Wir brauchen eine Allianz, weil sehr viele Probleme auftauchen. Unter anderem sinkt die Wahlbeteiligung. Darauf wurde vorhin schon mehrfach hingewiesen.

Wir müssen die extremen Parteien beobachten; denn sie haben Konjunktur. Unsere Demokratie braucht mehr Unterstützung und mehr Hilfe. Denn lange ist es noch nicht her: 75 Jahre sind vergangen, seit im Sommer 1933 die Demokratie abgeschafft worden ist. Millionen Männer und Frauen sind in den KZs gestorben; Millionen sind im Zweiten Weltkrieg gefallen. Wie konnte das in unserem Land, dem Land der vielen Erfinder und der hervorragenden Dichter, geschehen? Sicherlich war ein Grund, dass 1933 die Demokratie einfach noch nicht verwurzelt war. An dieser Stelle müssen wir helfen. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Landeszentralen für politische Bildung sind aufgerufen, das Demokratiebewusstsein ständig zu stärken. Aber eine Mahnung bleibt immer: Wehret den Anfängen!

Wenn man sich die politische Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland einmal ansieht, dann erkennt man, dass in vielen Landtagen, in vielen Stadtparlamenten und in vielen Kommunalparlamenten die Nazis als Abgeordnete sitzen. Wir müssen dagegen steuern. Wer da wegsieht, versündigt sich.

In den letzten Jahren konnte man tatsächlich beobachten, dass Nazis die Gefängnisse aufsuchten und versuchten, dort Nachwuchs zu gewinnen. Sie sprachen die jungen Gefangenen an; Gabi Fograscher hat das vorhin schon angesprochen. Auch bei den Migranten und in vielen anderen Bereichen war das der Fall; das muss gesehen werden. Diese Gefahr hat die Bundeszentrale erkannt und dort Hilfen angeboten. Sozialpädagogen und Pädagogen arbeiten eng zusammen und versuchen, in Berlin und in vielen Teilen der Bundesrepublik zu helfen. Sie sind wirklich erfolgreich. Diese erfolgreiche Arbeit muss in der nächsten Zeit fortgesetzt werden. Wir dürfen da nicht nachlassen; denn jede Generation muss die Werte der Demokratie neu erlernen.

Seit 1950 arbeitet unsere Bundeszentrale intensiv und engagiert im Rahmen von Lehrgängen und Kursen. Es gibt unter anderem Jugendaustauschprogramme. Außerdem werden, wie man heute so schön sagt, große Events durchgeführt. Das ist wichtig, gerade wenn man die Jugend ansprechen will.

Unsere politische Bildung veränderte an dieser Stelle sicherlich auch Europa. Man muss sich einmal überlegen: Tausende von Schulklassen sind nach Frankreich hinübergefahren. Viele Schulklassen sind von Frankreich nach Deutschland gereist. Diese Reisen wurden von der Bundeszentrale für politische Bildung begleitet. Die Jugendlichen haben bei dieser Gelegenheit auch über Politik diskutiert. An dieser Stelle ist aber nicht nur das Wissen über Institutionen wichtig. Es sind auch Freundschaften geschlossen worden. So entsteht eine Verbindung zwischen Politik und geschichtlichem Wissen auf der einen Seite und Gefühl und Herz auf der anderen Seite. Das war ein ganz entscheidender Punkt für unsere geschichtliche Entwicklung. Daran war die Bundeszentrale entscheidend beteiligt.

Das Ziel der politischen Bildung ist natürlich stets der mündige Bürger. Deshalb müssen wir alle Bürger unseres Landes ansprechen. Die Migranten gehören ebenso dazu wie die Kinder. Wir müssen dafür sorgen, dass es ein Angebot für Schüler, für Studenten und auch für Erwachsene gibt. Von der Bundeszentrale für politische Bildung und auch von vielen Landeszentralen für politische Bildung gibt es gute Angebote. Ich nenne beispielsweise die Comic-Reihe „HanisauLand“ für Kinder, herausgegeben von der Bundeszentrale. In dieser Tierwelt unterhalten sich die Tiere über die Demokratie. Sie wählen einen Bürgermeister und diskutieren über Wahlverfahren. Die Bundeszentrale geht da einen richtigen Weg.

Ich nenne weiterhin die interessante Filmreihe „Politibongo“, die für den Bundestag erstellt worden ist. Gnome kommen von einem anderen Planeten zu uns mit einer Superrakete herübergeflogen und landen auf der Reichstagskuppel. Sie laufen durch die Räume und beobachten uns und die Minister bei der Arbeit. Das ist superinteressant und informativ. Sie sollten sich das einmal ansehen. Dieser Film sagt vieles aus und ist sehr witzig.

Die Bundeszentrale und die Landeszentralen bieten den Jugendlichen und den Erwachsenen natürlich auch wichtige Werte und Inhalte durch Bücher und Zeitschriften. Dabei setzt man Schwerpunkte wie zum Beispiel die Globalisierung und China. Diese wichtigen Arbeiten unserer Zentralen werden immer von der Allianz der Parteien unterstützt. Das sieht man auch im Kuratorium sehr deutlich.

Die Bundeszentrale bietet auf ihrer Internetplattform unter anderem eine europäische Presseschau. Dort werden Probleme deutlich dargestellt, zum Beispiel die momentane Finanzkrise am Beispiel von England, Frankreich und verschiedenen anderen europäischen Staaten. Damit ist eine Botschaft verbunden: Wir haben ähnliche Sorgen und Ängste. Wir sitzen bei vielen Fragen in einem Boot.

Die politische Bildung darf nicht nur für Eliten da sein. Dafür zu sorgen, ist die Aufgabe unserer Bundeszentrale und unserer Landeszentralen.

Politik muss - das ist wichtig - für jeden Bürger greifbar sein. Unsere Bundesregierung und unsere Koalition unterstützen deshalb die vorbildliche Arbeit dieser Institutionen.

Gerade in der Zukunft braucht Deutschland mehr politische Bildung. An dieser Stelle darf nicht gespart werden. In der Parteiallianz müssen wir genau das umsetzen.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Ingo Wellenreuther.

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist in der heutigen Zeit ein zentrales Zukunftsthema für unser Land. Deshalb hat die Bundeskanzlerin eine Bildungsoffensive gestartet und im Oktober zu einem Bildungsgipfel eingeladen. Dort hat sie sich mit den Ländern auf das Ziel verständigt, bis 2015 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung zu investieren.

Die Große Koalition hat sich ebenfalls in besonderem Maße der Bildungspolitik angenommen. Sichtbar wurde dies an dem Bundeshaushalt für das Jahr 2009, den wir letzte Woche verabschiedet haben. Danach werden dem Bundesministerium für Bildung und Forschung im nächsten Jahr über 10 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt; das ist ein Anstieg von mehr als 9 Prozent.

Aber nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen und eine schulische bzw. universitäre Ausbildung sind wichtig, damit jeder seinen Platz in der Gesellschaft finden und aus eigener Kraft sein Leben meistern kann. Daneben spielt politische Bildung für jeden Einzelnen, aber auch für die Aufrechterhaltung unserer gesellschaftlichen Ordnung eine wichtige Rolle. Bernhard Vogel, der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, hat einmal gesagt:

Die politische Bildung muss Zukunftswissen vermitteln, Orientierung geben, Blockaden aufbrechen, Mitwirkung einüben, die geistige Bereitschaft wecken, sich mit den Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinander zu setzen…

Sie muss sich darüber hinaus


- so Bernhard Vogel -

zwei gravierenden Problemen stellen: dem beträchtlichen Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit von Politik und der Verunsicherung der Menschen in einer Welt, die sich schnell und fundamental wandelt.

Damit hat Bernhard Vogel zutreffend beschrieben, welche Aufgaben die politische Bildung hat und welchen Stellenwert wir ihr einräumen müssen.

Gerade deshalb halte ich unseren Antrag an die Bundesregierung, in dem wir fordern, verstärkt Aktivitäten auf dem Feld der politischen Bildung zu entfalten, für enorm wichtig, insbesondere deshalb, weil damit eine bessere Identifikation mit unserer parlamentarischen Demokratie möglich wird. Ich halte es für das Beste, was unserem demokratischen Rechtsstaat passieren kann, wenn es gelingt, die Menschen für politische Themen zu interessieren und zu begeistern.

Man kann sicherlich fragen: Ist das denn überhaupt notwendig? Ich meine Ja, weil genau damit dem allgemein zu beobachtenden Politikverdruss entgegengewirkt werden kann. Ich meine ebenfalls Ja, weil damit die Werte unserer föderalen Demokratie, wie Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft, Pluralität, repräsentative Demokratie und Achtung vor dem Andersdenkenden, vermittelt werden. Ich meine auch Ja, weil wir dadurch den Demagogen und den politischen Hetzern nicht das Feld überlassen.

Die Geschichte hat gerade uns Deutschen gezeigt, dass besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Menschen zu autoritären Lösungen neigen und die politischen Ränder Zulauf erhalten, die sich vor allem mehr oder weniger offen für die Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft einsetzen. Weimar hat uns gezeigt, wozu eine ablehnende Haltung gegenüber einer parlamentarischen Demokratie durch große Teile der Bevölkerung führen kann.

Natürlich ist politische Bildung wichtig für alle Menschen: für Erwachsene, für Migranten und gerade für bildungsfernere Schichten. Aber ich halte sie für überragend wichtig für Kinder und Jugendliche.

Diese müssen schon in jungen Jahren lernen, wie unser Staat aufgebaut ist, was föderale Struktur, Gewaltenteilung und Wahlrecht bedeuten, wie Gesetze entstehen, welche Aufgaben Parlament, Regierung, Verwaltung und Justiz haben und was es für ein zu bewahrendes Glück bedeutet, in einem solchen demokratisch verfassten Rechtsstaat zu leben, insbesondere im Vergleich zu anderen Staatsformen.

Dabei ist gerade den Jugendlichen auch bewusst zu machen, welchen Gefahren unsere Demokratie ausgesetzt ist, insbesondere durch Rechts-, Links- und religiösen Extremismus sowie Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit. Sie müssen Kenntnisse der jüngeren deutschen Geschichte mit Naziterrorherrschaft und SED-Diktatur vermittelt bekommen, um gegen dumpfe Parolen gewappnet zu sein.

Wenn dies alles zusammen gelingen sollte, dann wäre die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich der Einzelne in unserer Gesellschaft wiederfindet, sich einbringen und sich für politische Fragestellungen interessieren kann. Dies schafft aber nur derjenige, der die Zusammenhänge von Staat und Gesellschaft kennt und versteht. So kann sogar eigenes politisches Engagement im persönlichen sozialen Umfeld entstehen, zum Beispiel in Bürgervereinen oder in kommunalen Parlamenten.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Wellenreuther, achten Sie bitte auf das Signal vor Ihnen.

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
Ich achte darauf, und ich weiß auch, dass es keine Gleichheit im Unrecht gibt, wie beim Kollegen Karl. Ich komme aber bald zum Ende.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Sie sind wirklich weit über die Redezeit.

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
Ja, okay. - Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl, unser Antrag richtet sich an die Bundesregierung. Die Bundeszentrale für politische Bildung, die im Verantwortungsbereich des Innenministeriums angesiedelt ist, leistet in Bezug auf die politische Bildung schon bisher ganz hervorragende Arbeit. Natürlich kommt ihr bei all den Aufgaben weiterhin eine überragende Bedeutung zu.

Die Aufforderung, einen Beitrag zur politischen Bildung in unserem Land zu leisten, möchte ich aber ausdrücklich auch an die öffentlich-rechtlichen Medien, die vielen Lehrerinnen und Lehrer und die Erzieherinnen und Erzieher richten.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Wellenreuther, zwingen Sie mich bitte nicht zur Premiere, dass ich das Privileg, das Mikrofon auszuschalten, hier auch nutze. Ich bitte Sie wirklich um den letzten Satz.

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
Ein letzter Satz. - Ich möchte mich genau an eine ganz besondere Gruppe wenden, nämlich an uns, an die Politiker. Gerade wir sind es, die aufklären müssen, die in die Schulen gehen müssen, die den Schülern sagen müssen, wie Demokratie und Rechtsstaat funktionieren, und die vor allem auf eines hinweisen müssen, dass es nämlich beides nicht automatisch gibt, sondern dass beides täglich von uns verteidigt werden muss. Ich bedanke mich fürs Zuhören.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Hans-Peter Bartels.

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie vererbt sich nicht von selbst. Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie ist nicht sowieso da. Sie kann verloren gehen. Wir wissen das in Deutschland.

Demokratie ist eine Kulturtechnik, die man wie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen kann. Jede neue Generation muss die demokratischen Werte und Verfahrensweisen neu kennenlernen, einüben, ausprobieren und sich aneignen. Von selbst passiert das nicht, und es passiert in Deutschland zu wenig.

Deshalb lohnt es, den Antrag, den wir heute beraten, ernst zu nehmen. Er ist so dramatisch gemeint, wie er sich am Anfang liest:

Eine Demokratie, die sich nicht um die Förderung der demokratischen Kenntnisse und Fähigkeiten kümmert, wird aufhören, Demokratie zu sein.

Deshalb brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Anstrengungen zur politischen Bildung.

Im letzten Punkt unseres Antrages fordern wir die Forschung über die Grundlagen der politischen Bildung. Das hört sich banal an, ist aber ein absoluter Mangelbereich in unserer Wissenslandschaft. Deshalb bin ich froh, dass das Land Berlin und die Bundesforschungsministerin im Gespräch darüber sind, hier einen hoffentlich kräftigen Anschub zu geben. Es geht um so etwas wie ein Institut für die Didaktik der Demokratie.

Wer ist für die praktische Demokratieerziehung zuständig? Die Elternhäuser? Kindergärten? Schulen? Verbände und Parteien? Die Bundeswehr, Herr Minister? Die klassische Erwachsenenbildung? Die Medien? Sie alle sind zuständig. Sehr viel mehr könnte etwa in den Schulen getan werden. Ganz grundlegende Erfahrungen wären hier zu vermitteln, dass nämlich Demokratie kein Verfahren zur Vermeidung von Streit ist - das hat der Herr Bundestagspräsident richtig gesagt .- sondern dass strittige Diskussionen bessere Ergebnisse bringen und es Spaß macht, kontrovers zu diskutieren.

Warum gibt es nicht an allen Schulen Debattierzirkel -Debating Societies-, Rhetorikübungen, parlamentarische Rollenspiele, politische Schülergruppen und konkurrierende Schülerzeitungen? Demokratie kann in der Schule anfangen. Sich darin zu üben, ist ganz bestimmt nicht weniger interessant und aufregend, als den Zitronensäurezyklus zu lernen. Die Schule ist die Schule der Demokratie.

Ein Wort zur vornehmen "vierten Gewalt". In den Medien ist es Mode geworden, von "der Politik" zu sprechen, wenn etwas Politisches kritisiert wird: Es werden immer alle in einen Sack gesteckt, als sei alles gleich und als gebe es keinen Unterschied. Gleichzeitig kritisiert man gern das sogenannte Parteiengezänk. Kompromisse am Ende eines Streits sind auch von Übel und daher - das kennt man schon - faule Kompromisse. Wo ist die Medienkritik in den Medien? Wenn politisch Handelnde einmal bestimmte Haltungen in Presse und Funk kritisieren, so wie ich das jetzt mache, heißt es immer schnell: Billige Medienschelte. Ihr könnt wohl keine Kritik ab, was? - Liebe Kolleginnen und Kollegen, davon dürfen wir uns nicht mehr beeindrucken lassen.

Auch Abgeordnete sollten sich bemühen, nicht selbst in den Jargon der landläufigen Politikverachtung zu verfallen. Der frühere Direktor beim Deutschen Bundestag Wolfgang Zeh hat einmal einige solcher Floskeln zusammengestellt - ich zitiere -:

Sagt niemals, es sei ja nur parteipolitisch, was der politische Gegner vorbringt!

Schlagt niemals vor, man möge ein bestimmtes Thema aus dem Wahlkampf heraushalten!

Hört auf damit, jede Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als schallende Ohrfeige für die im Rechtsstreit unterlegene Seite zu bezeichnen!

Missbraucht die Befürchtung, etwas fördere die Parteienverdrossenheit, nicht in der politischen Auseinandersetzung!

Erzählt auch nicht zu oft die Sage, früher sei es im Bundestag viel besser gewesen, es habe gewaltigere Redner, bedeutendere Persönlichkeiten und knorrigere Charaktere gegeben! Es ist nur eine Alterserscheinung, so zu reden.


Zum Schluss:

Argumentiert und werbt ein wenig in der Öffentlichkeit für eine verständige und verstehbare Darstellung der Grundlagen und Bedingungen unseres politischen Lebens!

Das sagte Professor Dr. Wolfgang Zeh, und er hat recht. Ich danke Ihnen.


Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.

Quelle. Deutscher Bundestag . 16. Wahlperiode . 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008, Seite 20

Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 05.01.2009