Allgemeine und politische Weiterbildung

Zurück zur Übersicht

Wissen und Empathie in der historisch-politischen Bildung

Weinen bildet vielleicht nicht – aber es ist gleichwohl oft zum Heulen, genau das ist mein Thema: Wissen und Empathie. Ich beginne mit einem Satz, der vielen wohlbekannt, vielleicht allzu vertraut ist, gar abgenutzt erscheint.

Erziehung nach Auschwitz und die aktuelle Bildungspolitik

Im Jahr 1966 hat Theodor W. Adorno, seinen inzwischen berühmten Rundfunkvortrag über die »Erziehung nach Auschwitz« gehalten und darin gleich zu Beginn seinen pädagogischen Imperativ formuliert: »Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voraus, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.« (ADORNO 1970, S. 92). Dieser eigentlich ungeheuere, erregende Satz gehört inzwischen zum selbstverständlichen Zitatenschatz im Diskurs um Erinnerungsarbeit und Gedenkstättenpädagogik, wird auch instrumentalisiert im Kontext historisch-politischer Korrektheit und domestiziert als griffiges Motiv im Poesiealbum des theoretisch versierten »gedenkpädagogischen« Experten. Aber Adorno hat ja viel zu radikal formuliert, als dass man ihn so »herunterbrechen« könnte. Die »Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei« ist für ihn die erste selbstverständliche, gar nicht der Begründung bedürftige Aufgabe, das kategorische Ziel aller Erziehung, allen Unterrichts, aller Bildung, so müsste man ergänzen, um die Ungeheuerlichkeit des Adornoschen Imperativs, seines pädagogischen Imperativs zu verstehen.

Man muss diesen Satz in den Kontext der Pisa-dominierten Bildungsdebatte hierzulande stellen, um seine Sprengkraft, seine Sperrigkeit, seine unzeitgemäße Radikalität wirklich zu begreifen. Natürlich war, möglichen neu-humanistischen Bildungsmissverständnissen zum Trotz, Bildung immer auch Ausbildung, berufliche Qualifikation, natürlich mussten in einer zunehmend arbeitsteilig organisierten Gesellschaft allgemeine und berufsqualifizierende Bildung immer stärker in Spannung, ja Widerspruch zueinander geraten, aber erst in der bildungspolitischen Debatte der letzten Jahre ist der Wandel radikal: Je mehr im öffentlichen politischen Diskurs von Bildung die Rede ist, desto deutlicher wird, dass im Bildungsbegriff Qualifikation nicht mehr nur mitgedacht wird, dass der Bildungsbegriff vielmehr zum reinen Qualifikationsbegriff verkommen ist.

Selbst die in der Tat dringend nötige Diskussion um öffentliche Kindererziehung macht dies deutlich. Sie wird in der Regel geführt, als sei sie nur ein Annex der ökonomischen Hochrüstung der Republik. Und manches klingt schon ein wenig nach nicht unbedingt einfühlsamer und kinderfreundlicher pädagogischer Verfolgung, so etwa, wenn eine Redakteurin der noch immer eher als links-liberal geltenden »Frankfurter Rundschau« in einem Kommentar fragt: »Reicht es, zu sagen, das letzte Kindergartenjahr solle obligatorisch sein und möglichst kostenfrei?« Und dann fordert, »dass wir die Kinder vom zweiten Lebensjahr an [also ab dem 13. Monat ihres Lebens!] bilden, nicht betreuen sollten. Und zwar obligatorisch.« (FEHRLE 2006).

Dieter Lenzen, gelernter Pädagogikprofessor und Präsident der neuen Elite-Universität FU Berlin, hat schon früh die Zeichen der Zeit erkannt und ausgerechnet in einem Kommentar in der GEW-Monatsschrift »Erziehung und Wissenschaft« beklagt, dass seit der »Mitte des 19. Jahrhunderts … ein Typus von Erziehungsverständnis Oberhand gewonnen« habe, »der durch die Erfindung des Kindes in der Erzeugung von Schonräumen Lebensvermeidung kultiviert« habe (LENZEN 2001). Dann skizziert Lenzen sein eigenes pädagogisches Programm: »Wir müssen schon in der Grundschule, mit großer Konsequenz aber in der Sekundarstufe zwei, in der Hochschule und Berufsausbildung die nachwachsende Generation mit allen Elementen des Lebensernstes konfrontieren: mit Arbeit, mit ökonomischem Druck, mit sozialen Erwartungen, mit Rechtfertigungspflicht, Mitverantwortungsübernahme, mit der Verpflichtung, für sich selbst zuständig sein zu wollen und nicht eine der vielen Opfernischen (sic!) bewohnen zu wollen, die unsere Gesellschaft bietet.« (Ebd.).

Ökonomischer Druck, pädagogisch gewollt und gefordert, schon in der Grundschule? Das Konzept, entspräche es nicht doch dem bildungspolitischen Zeitgeist, könnte man als Zynismus abtun angesichts der Hausaufgaben – und anderer schulisch bedingter Dramen, die sich in Deutschlands Familien täglich abspielen, vom Drogenkonsum auch der Jüngsten ganz abgesehen, die mit Pillen schon früh gepäppelt werden, damit sie den Druck wegstecken, der von ihnen verlangt, einmal mindestens so erfolgreich zu werden wie Papi und Mami. Papi und Mami werden natürlich selbst stets weitergebildet, weil das lebenslange Lernen längst nicht nur Chance, sondern auch zur lebenslänglichen Zumutung geworden ist, weil man vor allem und fälschlicherweise davon ausgeht, dass nur lebenslanges Lernen vor Arbeitslosigkeit schützen könne.

Einmal älter und kinderfrei, strömen Papi und Mami in die Volkshochschulen und universitären Studiengänge für das Dritte Lebensalter, wiederum nicht zweckfrei, sondern für einen nützlichen Nebenberuf, das sog. Ehrenamt, das als Teil der Zivilgesellschaft das Ganze und uns alle vor dem sozialen Kollaps schützen soll. Und die auf den eigenen Füßen stehenden, der Familie und dem Schul-Druck jetzt entronnenen »Kinder« gehen nun – quasi als Belohnung – zur verschulten Universität, versuchen sich in modularisierten und credit-gepointeten, eher reflexionsfreien Bachelor- und Masterstudiengängen, stets die schnelle, angepasste, berufsqualifizierende Ausbildung vor Augen, das Lernziel »Employability« im Visier.

Jede Debatte, ich wiederhole, jede Debatte, so hatte Adorno formuliert, über die Erziehungsideale sei gänzlich »nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole« (ADORNO 1972, S. 92). Was für eine Entwicklung bis heute, was für ein monumentaler Einspruch gegen unsere aktuellen bildungspolitischen Debatten und Weisheiten, Vorgaben und Vorhaben!

Ich bleibe noch ein wenig bei Adorno. Weinen (allein) bildet nicht, aber ohne wirkliche Emotionen und (Be-)Rührung, ohne Empathie, die etwas anderes ist als die Angst und Abscheu erzeugende pädagogische Inszenierung des Grauens, ist Bildung nicht zu haben. Gerade die »Unfähigkeit zur Identifikation«, die fehlende Empathie also, die Unfähigkeit zum Mitleiden auch, sich Einfühlen – und entsprechend, so könnte man auch noch ergänzen, der Hang und die Neigung zum Wegsehen, zum aktiven Weghören, zum Schweigen – war, so Adorno, »fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen« (ebd. S. 106) habe abspielen können. Aber Adorno war auch Materialist, ja Marxist genug, um zu wissen, dass eben diese psychischen, individuellen, persönlichen Dispositionen, die den Faschismus begünstigt, ermöglicht, gefördert haben, mit der gesellschaftlichen Realität eng zusammenhängen. Und er hielt deshalb entschieden daran fest, dass es die »Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt« sei, die »die Verfolgung des eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen« fordere und fördere, was sich wiederum »im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein« (ebd.) niederschlage: »Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten« – Adorno bringt hier ökonomische Realität und psychische Disposition in wenigen Begriffen prägnant, fast genial zusammen – »als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen« (ebd.) sei eine der wesentlichen Voraussetzungen für das widerstandslose Funktionieren der Nazibarbarei gewesen.

Es ist nur folgerichtig, dass der pädagogische Adorno tief skeptisch bleibt, ein vorsichtiger, zweifelnder Realist, aber einer, der nicht aufgibt. Frühkindliche Erziehung und rationale Aufklärung, vor allem und immer wieder, wie Gerd Kadelbach im Vorwort der »Erziehung zur Mündigkeit« mit Recht bemerkt (vgl. ebd. S. 9), politische Bildung, könnten, so Adorno, am Ende zumindest helfen, das Schlimmste zu verhindern, könnten zumindest »dem Äußersten ungünstig« sein (Ebd. S. 108). »Erziehung zur Mündigkeit«, das ist für Adorno das Stich- und Leitwort einer Erziehung nach Auschwitz, einer sachgemäßen historisch-politischen Bildung. Und natürlich kann sich solche Bildung »Kälte« selbst nicht leisten.


Quelle: Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.); Gedenkstättenrundbrief Nr. 144 8/2008


Sie finden den vollständigen Artikel auf der Homepage des Gedenkstättenforums unter dem Menüpunkt "Gedenkstättenrundbrief".


Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 19.08.2008