Allgemeine und politische Weiterbildung

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Umbrüche in der Gesellschaft – Umbrüche in der politischen Bildung

„Wir stehen auf vielen Ebenen vor neuen Fragestellungen, vor neuen Orientierungsanforderungen. Es ist überhaupt nicht mehr selbstverständlich, wie sich Menschen orientieren. Ich werde das gleich an einzelnen Punkten aufzeigen. Wir befinden uns in einer Situation in der Welt, in der Erosionen um sich greifen, das heißt Ablösungen bestimmter selbstverständlicher institutioneller Regelungen – das bezeichne ich als Erosion – stattfinden. Es müssen nicht die Parlamente verschwinden, damit es so etwas wie einen autoritären, ja totalitären Staat gibt. Die Institutionen können durchaus weiter existieren, und trotzdem ist ihr Geist ausgehöhlt, haben sie ihren Sinn verloren. (...) „Jede Gesellschaft formuliert, insbesondere in ihren Krisensituationen, einen ihr eigentümlichen Lernbegriff. Der Lernbegriff ist nicht durchgängig anerkannt, aber es gibt so etwas wie eine neue Lerndefinition, und diese Lerndefinition ist immer darauf bezogen, dass sie auch Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen gibt. Die Lerndefinition, die Humboldt hatte, bezog sich auf Jena und Auerstedt. Er ist zum König gegangen und hat gesagt: ‚Wenn das alles versagt hat, die Verwaltung, das Militär und so weiter, so lassen Sie uns doch wenigstens Einrichtungen schaffen, die den Menschen ermöglichen zu begreifen, warum das geschehen ist.’ Das ist ein Moment der Humboldt’schen Bildungssreform. Gehen wir nach innen, überlegen wir und fangen anders an. Es ist nicht mehr das, was Lernen heute zu leisten hätte und leisten könnte, sondern Bildung im sinne von Persönlichkeitsbildung; Bildung im sinne von Gemeinwesenbildung, das ist die Antwort auf die Krise in Preußen.

Wie sieht das heute aus? Die Frage heute ist: Was sind gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen – nicht technischer Art? Ich weiß, dass dieser Begriff von Schlüsselqualifikationen immer mit technischen Sachverhalten verknüpft wird. Dies liegt im Terminus Schlüssel, mit dem etwas aufgeschlossen wird. Trotzdem ist Schlüsselqualifikation ein sehr sinnvoller Begriff, wenn man ihn für Bildungsprozesse benutzt, in denen zweierlei geleistet wird: nämlich Aneignung von Sachwissen und Orientierung. Der heutige Lernbegriff, der mit Bildung verknüpfbar ist – und Bildung hat im Übrigen immer etwas mit Persönlichkeitsbildung zu tun – muss zwei Funktionen gleichzeitig erfüllen: sachliche Informationsaneignung und Orientierung.

Orientierung bedeutet, wie finde ich mich zurecht in dieser Gesellschaft, in der eigentlich nichts mehr ist wie es war? Oder aber: Es sieht so ähnlich aus wie es gewesen ist, aber es ist nicht so. Der französische Soziologe Durkheim spricht von einer anomischen Situation. Er sagt, Anomie besteht darin, dass die Menschen noch die alten Regeln verwenden, aber die sind leblos, unbrauchbar geworden. Das ist eine Zwischenwelt, die Anomie. Und wir leben in solchen Zwischenwelten. Es wäre für uns viel einfacher, wenn bestimmte Dinge einfach abgeschaft werden. Dann hätten wir einen Gegenstand zur Auseinandersetzung. Diese zwischenwelten beinhalten insbesondere für die jüngere Generation sehr schwierige Probleme im Umgang mit der Realität, d. h. sie sind verknüpft mit Realitätsentzug. Die Realität entzieht sich gerade dadurch, dass sie eigentlich nie so ist, wie man sie wahrnimmt. Sie entzieht sich. Das heißt, Schlüsselqualifikationen im sinne dieser Neubestimmung bestehen immer darin, dass Orientierungen mitgeliefert werden: Selbst der hochqualifizierte Manager, der irgendwo Verantwortung übernimmt, wird dadurch, das er keine Zusatzqualifikation erwirbt, sogar im eigenen Betrieb und in seiner Karriere begrenzt. Ich kenne das aus Gesprächen mit Daniel Goeudevert, einem ehemaligen Manager bei VW. Er wollte hier im Ruhrgebiet einen großen Campus gründen, in Dortmund. Er sagt, die Qualifikation, die Wissensqualifikationen der Universitäten oder der Hochschulen müssen alle ergänzt werden. Die einen ergänzen privat und die anderen dadurch, dass das Unternehmen diesen Qualifikationserwerb bezahlt. Die Begrenztheit einer bloßen sachlichen Qualifikation ist offenkundig in einer Welt, in der eben vieles in Turbulenz und Umorganisation begriffen ist.“



Im Folgenden entwirft Negt ein Konzept von sechs Kompetenzen, die jeweils eine „Verbindung von Kompetenz und Orientierung“ darstellen. Es handelt sich um die
  • Identitätskompetenz

  • Ökologische Kompetenz

  • Technologische Kompetenz

  • Ökonomische Kompetenz

  • Kompetenz, Recht und Unrecht wahrzunehmen

  • Utopie-Kompetenz

Für Negt ist politische Bildung gerade heute von höchster Aktualität.

„Wenn wir politische Bildung als eine höchst aktuelle Anforderung an die gegenwärtige Krisensituation betrachten und sie für notwendig halten, dann haben wir natürlich ein Menschenbild vor uns, das wir realisieren wollen. Der Mensch wird heute wesentlich begriffen als ein außengeleitetes Wesen, das als freudestrahlender Trabant um die Sonne des kapitals kreist. Ja, Marktsicherheit, gewissermaßen Abschätzung von Chancen, das ganze System ist ein bisschen der unternehmerische Mensch. Der unternehmerische Mensch, jeder Mensch ein Unternehmer. Ergattern von Chancen. Und im sozialdarwinistischen Überlebenskampf eben sehen, wie man, wenn notwendig auch mit Ellbogen, seine Vorteile erringt und als Gewinner hervorgeht.

Ich glaube, politische Bildung ist nach wie vor auf Herstellung von Mündigkeit gerichtet, auf den innengeleiteten Menschen, der dem Opportunismus auch widersprechen kann, ohne seine Identität zu verlieren. Und dieses leistungsbewusste Mitläufertum, das gerade von denjenigen gefördert wird, die auch gegen politische Bildung eingestellt sind, weil es Luxus sei oder weil man notfalls darauf verzichten kann, ich glaube, diejenigen haben ein Bild vom Menschen, das dem Innengeleiteten widerspricht. Es bleibt ein großes Ziel der politischen Bildung, die Frage von Mündigkeit, Urteilsfähigkeit, Kritikfähigkeit wiederum ins Zentrum dieser Form der Lernziele zu rücken.“



Quelle: Rede von Oskar Negt, gehalten beim Jahresempfang des DGB-Bildungswerks NRW e. V. am 10.02.2000.

Sie können die vollständige Rede hier als pdf-Datei herunterladen.

Wir danken dm NRW-Bildungswerk für die freundliche Überlassung und das Recht der Einstellung dieser Rede.

Weitere Informationen gibt es auf der Homepage des DGB-Bildungswerks NRW.


Verweise zu diesem Artikel:
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 30.11.2007