Allgemeine und politische Weiterbildung

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Stellungnahme des Bundesausschuss politische Bildung (bap)

Orientierungskurse nach § 43 des Aufenthaltsgesetzes

Wir begrüßen, dass Anstrengungen unternommen werden, die Integration von Migrantinnen und Migranten durch das Angebot eines so genannten Integrationskurses nach § 43 des Aufenthaltsgesetzes zu unterstützen. Es ist aus unserer Sicht besonders zu begrüßen und zu unterstützen, dass zu diesem Integrationskurs neben dem Ziel des Spracherwerbs auch die „Vermittlung von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte Deutschlands“ im Rahmen von so genannten Orientierungskursen gehört.

Auch die Evaluation der Praxis der Integrationskurse unterstreicht den Stellenwert der Orientierungskurse und empfiehlt eine Aufwertung (vgl. Bundesministerium des Innern: Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz Abschlussbericht und Gutachten über Verbesserungspotenziale bei der Umsetzung der Integrationskurse, S.189-192). Sie bedauert das mangelnde Interesse der Migrantinnen und Migranten an einer Teilnahme. Sie zieht daraus den Schluss, dass bundesweit einheitliche Standards bei der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts und der abschließenden Tests als „ernst zu nehmende Anreize“ notwendig seien, um die Bedeutung der Orientierungskurse zu erhöhen (ebd.).

Die Träger der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland haben seit vielen Jahren Erfahrungen mit Angeboten der außerschulischen politischen Bildung für Migrantinnen und Migranten, Aussiedlerinnen und Aussiedlern. Sie wissen, dass das Interesse von Bürgerinnen und Bürgern, gleich welcher Herkunft, an Fragen der Geschichte, Rechtsordnung, Kultur und Politik in Deutschland nur dann zu erlangen ist, wenn diese an deren unterschiedlichen Lebenswelten anknüpfen und sie die plurale und kontroverse Diskussion dieser Fragen als wichtig für die Ausbildung von Kompetenzen für eine gesellschaftliche und politische Teilhabe erkennen. Weder die bisherige Praxis der Orientierungskurse noch der vorliegende Entwurf eines Rahmencurriculums sind geeignet, das Interesse und auch den notwendigen „Ernstcharakter“ dieser für eine Integration so wichtigen Vermittlung von Teilhabekompetenzen zu unterstützen.

Vor diesem Hintergrund wäre es hilfreich gewesen, die Träger der außerschulischen politischen Bildung, in ihrer Gesamtheit repräsentiert durch den Bundesausschuss politischer Bildung (bap), in die Diskussion der Orientierungskurse und des Orientierungskurstests sowie die Erarbeitung des Curriculums einzubeziehen. Leider sind aber auch die Bemühungen einzelner Trägerverbände der politischen Bildung, sich mit eigenen Vorschlägen für ein Curriculum der Orientierungskurse einzubringen, nicht berücksichtigt worden.

Wir gehen davon aus, dass politische Bildung - auch solche, wie sie in den Orientierungskursen geboten wird - auf einer Pluralität der Ansätze beruhen muss, teilnehmerorientiert, lebensweltbezogen, pluralistisch, kontrovers und Werte orientiert sein muss – unter Beachtung des Beutelsbacher Konsenses, der u.a. das so genannte „Überwältigungsverbot“ vorgibt. Wir gehen dabei von einem entsprechenden Verständnis unserer demokratischen politischen Kultur aus, die ebenfalls auf der pluralen, kontroversen, demokratischen Auseinandersetzung, Meinungsbildung und Willenbildung beruht.

Die notwendige Pluralität und Flexibilität der Ansätze politischer Bildung können weder durch administrative inhaltliche und didaktische Vorgaben noch durch restriktive staatliche Veranstaltungen ersetzt werden. Auch die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung leisten neben ihrer fördernden Funktion vor allem Hilfestellungen in fachdidaktischen Fragen, mit der Entwicklung von Arbeitsund Informationsmaterialen sowie in der trägerübergreifenden konzeptionellen Debatte. Der operative Bereich sowie die Kompetenz in den didaktischen Entscheidungsfeldern muss jedoch bei den einzelnen Trägern der politischen Bildung liegen, um die Pluralität innerhalb der politischen Bildung zu gewährleisten und um den Teilnehmenden der Bildungsmaßnahmen unterschiedliche Möglichkeiten zu geben, anknüpfend an ihr Interesse und an eigene Erfahrungen, an ihre Lebenswelt und kulturelle Hintergründe Kompetenzen für eine individuelle gesellschaftliche und politische Teilhabe auszubilden.


Stellungnahme zur Diskussion

Die mangelnde Berücksichtigung dieser Aspekte in der Diskussion um die Orientierungskurse veranlasst uns, zu dem nun geplanten Vorhaben eines einheitlichen Curriculums sowie dessen Umsetzung schriftlich Stellung zu nehmen. Dabei gehen wir davon aus, dass politische Bildung für Migrantinnen und Migranten nach den gleichen fachlichen Qualitätskriterien der Jugend- und Erwachsenenbildung erfolgen soll wie für deutsche Bürgerinnen und Bürger.

Teilnehmerorientierung

Ein Qualitätskriterium außerschulischer politischer Bildung ist die Teilnehmerorientierung in der Ausgestaltung der Angebote und der Art der Vermittlung. Dazu bedarf es
  • der Berücksichtigung der Herkunftsgeschichte, des kulturellen Erfahrungskontextes sowie der aktuellen Lebenswelt der Teilnehmenden, der Interessen und Handlungsbedarfe sowie ihrer sprachlichen, intellektuellen und emotionalen Voraussetzungen sowie

  • einer thematischen und methodischen Ausrichtung, die diesen Anforderungen gerecht wird sowie genügend Raum und Zeit, unterschiedliche, auch kontroverse Sichtweisen zu Wort kommen zu lassen und zu diskutieren.
Der vorliegende Curriculumentwurf bietet weder Zeit noch Raum dafür. Er sieht vielmehr in einem Umfang von 30 UE ein so umfangreiches, in seinen Inhalten festgelegtes und kleinschrittiges Programm vor, dass es nach unserer Erfahrung ausgeschlossen erscheint, neben einer kognitiven, auf die Testfragen ausgerichteten Vermittlung der vorgegebenen Inhalte auch plurale oder kontroverse Perspektiven ausreichend und methodisch angemessen zu berücksichtigen. Der Zuschnitt des Curriculums gewährleistet keineswegs eine „Abgrenzung zur politischen Indoktrination“ (S.2 des Entwurfs) und die geforderte Wertevermittlung (ebd.), sondern begünstigt schon aus Zeitgründen im Gegenteil das Ausblenden derjenigen Vermittlungsmöglichkeiten (multiperspektivische Darstellungen, selbstständiges Recherchieren, Diskussion, Rollenspiele u.a.), die eine multiperspektivische, pluralistische, individuelle Meinungsbildung unterstützen.

Partizipations- und Handlungskompetenz

Oberstes Ziel außerschulischer politischer Bildung ist die gesellschaftliche und politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. Sie sollen in die Lage versetzt werden, auf der Grundlage intellektueller und emotionaler Auseinandersetzung mit Staat, Gemeinwesen und Gesellschaft, selbstbestimmt einen Standpunkt zu beziehen und diesen durch demokratische Beteiligungsverfahren in das politische Leben in Deutschland einzubringen. Politische Bildung ist aus unserer Sicht daher immer die Ausbildung von Partizipations- und Handlungskompetenz. Um dieses zu erreichen, lernen die Teilnehmenden Handlungsoptionen, Strukturen und Wege kennen und üben Fertigkeiten ein, an demokratischer Auseinandersetzung, Meinungs- und Willensbildung teilzuhaben.

Auch hierfür sieht der vorliegende Curriculumentwurf keinerlei Verfahren vor. So ist kaum Zeit und Raum gegeben, um über die kognitive – und notwendig weitgehend abstrakte – Beschäftigung mit Themen, Strukturen und Institutionen hinaus handlungsorientiert zu arbeiten. Dafür müssten Spielräume gegeben sein, Strukturen und Wege aus eigener Anschauung kennen zu lernen (z.B. durch Lernen an anderen Orten, Zusammentreffen mit VertreterInnen von Organisationen, Parteien, politischen Vertretungen), Fertigkeiten zu üben und Handlungsoptionen zu erproben.

Anforderungen

Zu diesem Zuschnitt passt es, dass die Anforderungen an die Teilnehmenden der Orientierungskurse v.a. in Bezug auf den künftigen Orientierungskurstest offensichtlich vor allem im Bereich des (abfragbaren) Wissens um Strukturen und Institutionen gestellt werden und nicht in Bezug auf Kompetenzen, die zur Partizipation befähigen würden. Darüber hinaus fragen wir uns, warum das Niveau der Anforderungen an das Wissen, gemessen am Wissen eines durchschnittlichen deutschen Bürgers/Bürgerin und erst recht gemessen am vorgesehenen Sprachniveau, dermaßen hoch sein muss und bezweifeln, dass es mit den vorliegenden didaktischen Vorschlägen erreicht werden kann.

Offenes, outputorientiertes Curriculum

Demgegenüber verlangen die oben genannten wesentlichen Merkmale außerschulischer politischer Jugend- und Erwachsenenbildung ein outputorientiertes, offenes Curriculum, das den jeweiligen Lebensweltbezügen und Interessen der – im übrigen ja sehr unterschiedlichen - Zielgruppen der Migrantinnen und Migranten gerecht wird und den Lehrkräften Raum und Zeit lässt, die Angebote teilnehmer- und handlungsorientiert zu gestalten. Dabei kommt es zwar maßgeblich auf ein sachgerechtes und umfangreiches Wissen an. Dieses kann und darf aber nicht die alleinige Maßgabe sein, um die im Übrigen auch im Curriculumentwurf genannten Lernziele - affektive Lernziele, Kompetenzentwicklung und -Erweiterung – zu erreichen.

Der vorliegende Curriculumentwurf ist das genaue Gegenteil. Entgegen jeder aktuellen Bildungsforschung soll hier ein input-orientiertes, stark reglementierendes und überfrachtetes Programm vorgegeben werden, das aus fachlicher und pädagogischer Sicht weit hinter die Anforderungen außerschulischer Jugend- und Erwachsenenbildung, aber auch hinter aktuelle Anforderungen an die schulische Didaktik, zurückfällt. Das hier abgebildete Verständnis von politischer Bildung ist das einer reglementierenden Staatskunde und nicht ausreichend, die gesellschaftliche und politische Teilhabefähigkeit, schon gar nicht das Interesse der Betroffenen daran, auszubilden.

Qualifikation der Lehrkräfte

Nicht ein kleinschrittiges und deskriptives Curriculum garantiert den Lernerfolg und ein Interesse der Teilnehmenden an den Orientierungskursen und wertet diese auf, wie im Evaluationsbericht behauptet (vgl. S. 198-192). Vielmehr bedarf es der Flexibilität didaktischer und inhaltlicher Entscheidungen. Diese allerdings, hier stimmen wir dem Evaluationsbericht zu, sollten auf der Grundlage fachpädagogischer und fachwissenschaftlicher Kompetenzen gefällt werden. Ausgebildete Fachkräfte der politischen Bildung sind in der Lage, teilnehmerorientiert und sachgerecht das Interesse der Teilnehmenden und die Qualität der Orientierungskurse zu erhöhen.

Für eine qualitätsvolle Umsetzung der Orientierungskurse sollten die Lehrkräfte daher eine Qualifikation für politische Bildung vorweisen. Lehrkräfte im Bereich DaF besitzen diese Qualifikation nicht automatisch. Beide Bereiche verlangen eine gesonderte Befähigung, gesondertes Fachwissen, pädagogische Qualifikationen und Erfahrungen. Daher ist aus unserer Sicht zu prüfen, die Träger- wie die Lehrkräftezulassung jeweils für die Orientierungskurse und die Sprachkurse gesondert zu definieren. Gleichzeitig bieten sich die Träger politischer Bildung an, entsprechende Angebote zum Erwerb von Zusatzqualifikationen zu machen. Auch hier müssen die fachliche Kompetenz und die Erfahrung der freien Träger in der operativen Praxis Vorrang vor staatlichen Einrichtungen haben.

Die Träger außerschulischer politischer Bildung bieten hiermit ihre Fachkompetenz und Mitarbeit an der Ausgestaltung der Orientierungskurse an.


Quelle: Stellungnahme des Bundesarbeitskreises Politische bildung, 1. März 2007

Sie können die Stellungnahme hier auch als pdf-Datei herunterladen.

Verweise zu diesem Artikel:
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 16.05.2007

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024